EuGH prüft SGB II-Leistungsausschluss für Eltern

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Sozialleistungen EuGH prüft SGB II-Leistungsausschluss für Eltern

Der Europäische Gerichtshof befasst sich in einem laufenden Verfahren mit einem Leistungsausschluss nach SGB II für EU-Arbeitnehmer/innen: Ein Leistungsausschluss besteht aktuell dann, wenn einem Elternteil ausschließlich ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht über seine Kinder zusteht, die in Deutschland die Schule besuchen oder eine Berufsausbildung machen. 

Es geht um den Fall eines polnischen Familienvaters (EuGH C-181/19): Er war in Deutschland Arbeitnehmer, seine Kinder gingen in Deutschland zur Schule. Als sein Arbeitslosengeld-Anspruch endete, beantragte er Grundsicherung für Arbeitssuchende. Das Jobcenter Krefeld lehnte seinen Antrag ab. Er halte sich ausschließlich zum Zweck der Arbeitssuche in Deutschland auf und sei somit nicht leistungsberechtigt. Das Sozialgericht und das Landessozialgericht wiesen darauf hin, dass dem Familienvater ein Aufenthaltsrecht nach Artikel 10 der Verordnung (EG) 492/2011 über seine Kinder zustehe. Nach SGB II sind aber auch Personen, die ein Aufenthaltsrecht ausschließlich aus Artikel 10 der Verordnung (VO) ableiten, von Grundsicherungsleistungen ausgeschlossen (§ 7 Absatz 1 S. 2 Nr. 2 Buchst. c).

Info-Box – Aufenthaltsrecht nach Artikel 10 Verordnung (EG) 492/2011 

(1) Die Verordnung (EG) 492/2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer/innen gewährt in Artikel 10 Kindern von EU-Bürgern/innen ein Recht auf Teilnahme am Schulunterricht und an der Berufsausbildung und damit einhergehend ein eigenständiges Aufenthaltsrecht. Voraussetzung für das Entstehen der Rechte ist, dass die Kinder zu einem Zeitpunkt ihren Aufenthalt in Deutschland begründen, an dem die Eltern (oder ein Elternteil) den Status eines/einer Arbeitnehmers/in innehaben. 

(2) Die europarechtlich verbrieften Rechte des Kindes wirken wiederum schützend für den Elternteil, der die tatsächliche Sorge für das Kind wahrnimmt: Auch die Eltern können aus Artikel 10 der Verordnung (VO) ein Aufenthaltsrecht ableiten. Denn mit dem Recht des Kindes, am Unterricht teilzunehmen, geht untrennbar einher, dass der die Personensorge ausübende Elternteil mit ihm leben können muss. Dieser Schutz bleibt auch bestehen, wenn der Elternteil die Arbeitnehmereigenschaft verliert – das Kind hat ein Recht auf Fortsetzung des Schulbesuchs bzw. der Ausbildung bis zum Abschluss. 

(3) Das Aufenthaltsrecht der Kinder und Eltern hängt nicht von deren wirtschaftlicher Eigenständigkeit ab. Dies ist also keine Vorbedingung für das Aufenthaltsrecht.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) soll nun nach Vorlage des in zweiter Instanz befassten Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen klären, ob der Leistungsausschluss im SGB II gegen das europarechtliche Gleichbehandlungsgebot für EU-Arbeitnehmer/innen im Vergleich zu inländischen Arbeitnehmern/innen verstößt. 

Stellungnahme des Generalanwalts

Mitte Mai hat nun der Generalanwalt am EuGH im Verfahren Stellung genommen (Schlussanträge vom 14.05.2020 ). Seiner Auffassung nach verstößt der Leistungsausschluss gegen den Gleichbehandlungsanspruch. Dieser konkretisiert sich in Artikel 7 Absatz 2 VO (EG) 492/2011): EU-Arbeitnehmer/innen genießen die gleichen sozialen Vergünstigungen wie inländische Arbeitnehmer/innen. Der Wortlaut des Gleichbehandlungsgebots ist auf allerdings auf „Arbeitnehmer/innen“ begrenzt und der Familienvater im zugrunde liegenden Fall war kein Arbeitnehmer mehr. Der Generalanwalt erörtert, dass er ein offeneres Verständnis der Norm als geboten erachtet und plädiert dafür, es auf Personen anzuwenden, die bereits einmal als Arbeitnehmer/innen vom Anwendungsbereich der Verordnung erfasst waren. 

Der Leistungsausschluss sei außerdem nicht mit dem Europarecht vereinbar, so der Generalanwalt, weil er die praktische Wirksamkeit von Artikel 10 VO (EG) 492/2011 beeinträchtige. Das Aufenthaltsrecht werde faktisch entwertet, wenn der Zugang zu existenzsichernden Leistungen verwehrt sei. Hierzu verweist er auf die Rechtsprechung des EuGH, nach der wirtschaftliche Eigenständigkeit keine Bedingung dieses Aufenthaltsrechts sei. Der Generalanwalt bezieht in seinen Ausführungen kritisch Stellung zum - so wörtlich - „Gespenst des Sozialtourismus.“ Es seien im Verfahren keine Zahlen zur Veranschaulichung der Bedrohung für das deutsche System der sozialen Sicherheit vorgelegt worden, die solche Befürchtungen untermauern könnten. 

Nun bleibt abzuwarten, wie der EuGH entscheidet. In der überwiegenden Anzahl der Fälle folgen die EuGH-Richter dem Plädoyer des Generalanwalts.

Bedeutung für aktuell abgelehnte SGB-II-Anträge

Bei einer Ablehnung des SGB II-Antrags durch das Jobcenter in der vorliegenden Konstellation sollte aufgrund dieses EuGH-Verfahrens die Möglichkeit des Widerspruchs und der Klage geprüft werden. 

In Betracht kommt auch eine vorläufige Auszahlung von Grundsicherungsleistungen durch das Jobcenter. Darauf sollten die Betroffenen das Jobcenter aufmerksam machen. Eine solch vorläufige Auszahlung kommt bei laufenden Verfahren vor dem EuGH in Betracht (§ 41a Absatz 7 Nummer 1 SGB II).