Verfahrensfragen grenzübergreifend betrachten

  • EU-Gleichbehandlungsstelle
  • EU-Bürger

  • Arbeitgeber

  • Experten

  • Analysen

  • Aktuelles

  • Service

  • Praxisleitfaden

zurück zum Lotsen

Kindergeld Verfahrensfragen grenzübergreifend betrachten

Kindergeldberechtigt ist der Elternteil, der mit den Kindern in einem Haushalt lebt – auch wenn der Wohnort in einem anderen EU-Mitgliedstaat liegt. Stellt aber der in Deutschland wohnende Elternteil den Kindergeldantrag, gilt dieser Antrag auch zugunsten des kindergeldberechtigten Elternteils in dem anderen EU-Mitgliedstaat.

Hintergrund

In dem vom BFH entschiedenen Fall (vom 31.8.2021, III R 10/20 - veröffentlicht am 7.1.2022) ging es um den Kindergeldbezug zugunsten eines mit der bulgarischen Mutter (der Klägerin im Verfahren) in Griechenland lebenden Kindes. Für das Kind gab es in Griechenland keine kindergeldähnlichen Familienleistungen, da dort die Anspruchsvoraussetzungen nicht erfüllt waren. Die Klägerin war in Griechenland nicht erwerbstätig und bezog auch keine Rente. Der im strittigen Bezugszeitraum (2012 bis 2015) in Deutschland lebende Vater, ein griechischer Staatsangehöriger, war aufgrund eines Verkehrsunfalls erwerbsunfähig und erhielt vom Unfallgegner aus dessen Haftpflichtversicherung bis 2014 monatliche Geldleistungen und im Anschluss ab 2015 die gesetzliche Altersrente. Er hatte im April 2013 einen Antrag auf Kindergeld für sein in Griechenland lebendes Kind gestellt, der von der Familienkasse aber abgelehnt wurde. Ab Bezug der Alternsrente (2015) erkannte die Familienkasse schließlich den Kindergeldanspruch zugunsten der Mutter an. Strittig blieb aber der Zeitraum 2012 bis 2015.

Kindergeldantrag

Der BFH hat in seinem Urteil folgende Punkte zum Kindergeldantrag dargelegt: Das Kindergeld ist bei der zuständigen Familienkasse schriftlich zu beantragen (§ 67 Satz 1 Einkommensteuergesetz – EstG). Die Verwendung eines amtlichen Vordrucks ist dabei nicht vorgeschrieben. Der Kindergeldantrag muss auch nicht eigenhändig unterschrieben werden; eine Vertretung ist zulässig.

Info zum Antragsteller: Ein von einem Elternteil, einer als Elternteil behandelten Person oder einem Vormund des Kindes gestellter Antrag auf Familienleistungen gilt auch zugunsten einer Person, die selbst keinen Antrag gestellt hat. Der in der Koordinierungsverordnung zu den sozialen Sicherheitssystemen niedergelegte Grundsatz der grenzübergreifenden Familienbetrachtung – unabhängig davon, in welchem EU-Mitgliedstaat sich Familienangehörige aufhalten – schlägt also auch auf Verfahrensfragen durch (Artikel 67 EU-VO Nr. 883/2004 in Verbindung mit Artikel 60 Absatz EU-VO Nr. 987/2009). Damit wird etwa vermieden, dass ein an sich  nachrangig zuständiger EU-Mitgliedstaat nur deshalb die vollen Familienleistungen erbringen muss, weil im vorrangig zuständigen EU-Mitgliedstaat kein Antrag auf Familienleistungen gestellt wurde (zu konkurrierenden Ansprüchen siehe unten).

Im vorliegenden Fall galt der vom Vater gestellte Kindergeldantrag daher auch für die in Griechenland mit dem gemeinsamen Kind lebende Mutter.

Festsetzungsverjährung

Der BFH weist darauf hin, dass sich auch bei der Verjährung der Festsetzung (nach § 171 Absatz 3 der Abgabenordnung) auswirkt, dass der Antrag des Vaters zugunsten der anspruchsberechtigten Mutter wirkt. „Sowohl nach dem weit gefassten Wortlaut der Vorschrift (Artikel 60 Absatz 1 Satz 3 der EU-VO Nr. 987/2009) als auch nach ihrem Sinn und Zweck ist davon auszugehen, dass dieser Antrag auch den Ablauf der Festsetzungsfrist zugunsten der anspruchsberechtigten Person solange hemmt, bis hierüber unanfechtbar entschieden worden ist.“ (Randnummer 23 des BFH-Urteils).

Eine Verjährung hinsichtlich der Festsetzung des Kindergeldes war in diesem Fall daher nicht eingetreten. Der für den Kindergeldanspruch der Klägerin maßgebliche Antrag des in Deutschland lebenden Vaters wurde bereits im April 2013 gestellt. Die Klägerin hatte zwar 2017 noch einen eigenen Kindergeldantrag eingebracht, der aber eindeutig nicht losgelöst vom Antrag des Vaters zu betrachten war, sondern vielmehr nur Angaben präzisierte – also kein eigenständiges Antragsverfahren darstellte.

Keine konkurrierenden Kindergeldansprüche

Der Kindergeld-Anspruch der Klägerin konnte – entgegen der Auffassung der Familienkasse als Beklagter – nicht etwa nach EU-Koordinierungsrecht ausgeschlossen sein, weil der Anspruch auf deutsches Kindergeld bis 2015 allein auf dem Wohnsitz des Vaters in Deutschland beruhte (Artikel 68 EU-VO Nr. 883/2004 zu Prioritätsregeln bei Zusammentreffen von Ansprüchen). Diese Vorschriften sind nur anwendbar, wenn kindergeldähnliche Familienleistungsansprüche in mehreren EU-Mitgliedstaaten bestehen, für die dann eine jeweils vorrangige bzw. nachrangige Zuständigkeit in den Mitgliedstaaten festgestellt werden muss. Die Klägerin hatte für den streitigen Zeitraum aber keinen Anspruch auf kindergeldähnliche Familienleistungen in Griechenland. Für mehr Informationen zu Vorrangigkeit und Nachrangigkeit sowie dem Differenzkindergeld siehe hier.

Kindergeldanspruch

Die Voraussetzungen für den Kindergeldanspruch der Klägerin nach EstG waren laut BFH im streitigen Zeitraum 2012 bis 2015 gegeben. Um das Wohnsitzerfordernis im Inland für den Anspruch zu erfüllen (§ 62 Absatz 1 Nr. 2 EstG), wurde auf Grundlage des europäischen Koordinierungsrechts zutreffend ein Wohnsitz der Klägerin in Deutschland „fingiert“, also die Situation so betrachtet, als würde der Wohnsitz aller relevanten Familienmitglieder im zuständigen Mitgliedstaat (hier Deutschland) liegen (Artikel 67 EU-VO Nr. 883/2004 → Grundsatz der grenzübergreifenden Familienbetrachtung).