Anrechnung auch von nicht beantragten Familienleistungen

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Kindergeld Anrechnung auch von nicht beantragten Familienleistungen

Das EU-Koordinierungsrecht entscheidet, welcher EU-Mitgliedstaat vorrangig für einen Anspruch auf kindergeldähnliche Familienleistungen zuständig ist. Dies betrifft auch Fälle, in denen erst später Umstände eintreten, aus welchen sich ein weiterer Anspruch in einem anderen EU-Mitgliedstaat ergibt (z.B. durch eine Beschäftigungsaufnahme).

Der Bundesfinanzhof (BFH) entschied über einen Fall, in dem ein Familienvater für seine Zwillinge seit 1998 deutsches Kindergeld bezog (BFH vom 9. Dezember 2020, III R 73/18 ). Die Familie lebte in Deutschland. Die Frau war nicht erwerbstätig. Im Jahr 2000 nahm der Familienvater in den Niederlanden eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung auf. Darüber machte er der Familienkasse in Deutschland keine Meldung, so dass die Familie unverändert das deutsche Kindergeld bezog. Jahre später erfuhr die Familienkasse von der Erwerbstätigkeit in den Niederlanden, weil die Zwillinge 2016 volljährig wurden. Sie hob die Festsetzung des Kindergeldes für mehrere Jahre in der Höhe auf, in der ein Anspruch auf Familienleistungen in den Niederlanden bestanden hätte. Die Aufnahme einer Beschäftigung des Familienvaters in den Niederlanden stellten für den Anspruch und die Festsetzung des Kindergeldes in Deutschland relevante „Änderungen“ dar
(§ 70 Abs. 2 EstG ).

Wenn in mehreren EU-Mitgliedstaaten Ansprüche auf vergleichbare Leistungen bestehen – in diesem Fall Familienleistungen –, regelt („koordiniert“) das EU-Recht die Rangfolge dieser Ansprüche. Mehr Informationen zur Rangfolge von Ansprüchen nach EU-Koordinierungsrecht finden Sie hier.

In diesem Fall wurde das EU-Koordinierungsrecht relevant, als der Familienvater die neue Beschäftigung in den Niederlanden antrat. Diese Koordinierungsregeln gelten auch dann, wenn sich wie hier im Nachhinein die für die Familienleistungen entscheidenden Umstände verändern. Es besteht kein Wahlrecht für die Betroffenen. Da ein Anspruch aufgrund einer Beschäftigung vorrangig vor einem Anspruch ist, der sich nach dem Wohnort richtet, war der niederländische Träger für Familiengeld mit Aufnahme der Beschäftigung vorrangig zuständig (Artikel 68 Absatz 1 Buchst. 1 der EU-Verordnung Nr. 883/2004); die Familienkasse als deutscher Träger nachrangig.

Der vorrangig zu bedienende Anspruch auf niederländische Familienleistungen war auch nicht deshalb zu verneinen, weil der Familienvater als Kindergeldberechtigter keinen Antrag auf Familienleistungen in den Niederlanden gestellt hatte. Der beim nachrangigen Träger (hier Deutschland) gestellte Antrag auf Kindergeld ist so zu behandeln, als wäre er beim vorrangig zuständigen Mitgliedstaat (hier die Niederlande) gestellt worden (Art. 68 Absatz 3 Buchst. b der EU-Verordnung Nr. 883/2004). Dies wirkt sich laut BFH auch auf erst später eintretende Umstände aus, wie die Beschäftigungsaufnahme in den Niederlanden, die der Familienvater unter Verletzung seiner Mitwirkungspflichten der Familienkasse nicht gemeldet hatte.

Info Antrag und Differenzbetrag: Erhält der Träger in einem EU-Mitgliedstaat, etwa die Familienkasse in Deutschland, einen Antrag auf Kindergeld, entscheidet er in einem grenzüberschreitenden Fall innerhalb der EU über die Rangfolge der Ansprüche.

Bei Nachrang: Die Familienkasse hat eine vorläufige Entscheidung über den Nachrang zu treffen und den Antrag an den Träger im anderen EU-Mitgliedstaat weiterzuleiten. Erforderlichenfalls zahlt sie den Unterschiedsbetrag, auch Differenzbetrag genannt (Artikel 68 Absatz 2 der Verordnung 883/2004). Der Differenzbetrag kann sich ergeben, wenn der vorrangige Anspruch niedriger als der nachrangige Anspruch ausfällt.

Bei Vorrang: Die Familienkasse zahlt das Kindergeld, wenn nach deutschem Recht ein Anspruch besteht. Kommt ein Anspruch auf einen Differenzbetrag in einem nachrangig zuständigen EU-Mitgliedstaat in Betracht, übermittelt die Familienkasse dem entsprechenden Träger dort den Antrag. In allen Fallkonstellationen wird der Antragsteller über die jeweiligen Vorgänge informiert.


Fazit: Der Anspruch auf kindergeldähnliche Familienleistungen in einem anderen EU-Mitgliedstaat, der hier aufgrund der Beschäftigungsaufnahme des Familienvaters vorrangig wurde, ist auch dann nachträglich auf das hier in Deutschland gewährte Kindergeld anzurechnen, wenn der Kindergeldberechtigte die ihm im anderen Mitgliedstaat zustehenden Familienleistungen dort nicht beantragt und bezogen hat.