Fallbeispiel
Lilia arbeitet für eine deutsche Familie, bei der sie sich um ein älteres, dementes Ehepaar kümmert. Lilia hat durch eine litauische private Arbeitsvermittlung einen Arbeitsvertrag mit einer deutschen Haushaltsdienstleistungsfirma über 20 Stunden pro Woche abgeschlossen und verdient 9,50 € pro Stunde. Sie kümmert sich rund um die Uhr um die pflegebedürftigen Personen. Es gibt niemanden außer ihr im Haus, der sie dabei unterstützt. Von früh morgens an ist sie beschäftigt: Sie bereitet Mahlzeiten vor, erledigt Einkäufe, putzt die Wohnung, arbeitet im Garten, hilft den Pflegebedürftigen beim An- und Ausziehen, bei der Körperwäsche, bei den Toilettengängen und verabreicht ihnen Medikamente. Sie leistet ihnen Gesellschaft beim Fernsehen oder wenn sie im Garten am Nachmittag Kaffee und Kuchen essen. Manchmal muss sie auch in der Nacht aufstehen, um ihnen Medikamente zu geben oder den Blutdruck zu messen. Die Familie hat das Babyphone im Schlafzimmer der Großeltern montiert, damit Lilia auch in der Nacht kommen kann, wenn sie benötigt wird. Freizeit hat Lilia nur einmal pro Woche am Sonntag. Dann kommt die Tochter der Pflegebedürftigen zu Besuch und Lilia kann das Haus verlassen.
Lilia hat mit ihrem Vermittler aus Litauen telefoniert und gefragt, ob nicht die gesamte wöchentlich im Haus verbrachte Zeit als Überstunden gilt, die bezahlt werden sollte. Ihr wurde gesagt, dass Fernsehen schauen, sich auf der Veranda erholen oder Schlafen zur sogenannten inaktiven Arbeitszeit gehöre, für die ihr keine Vergütung zustünde.
Information über ihre Rechte bekommt Lilia kostenlos bei einer arbeitsrechtlichen Beratungsstelle. Deutschlandweit gibt es mehrere solche Beratungsstellen:
Spezifische arbeitsrechtliche Beratungsstellen
https://www.arbeitundleben.de/beratungsstellen/beratungsstellen
https://www.faire-mobilitaet.de/beratungsstellen
Eine Übersicht aller Beratungsstellen nach Schwerpunkt sowie auch nach Sprache findet Lilia unter:
https://www.eu-gleichbehandlungsstelle.de/beratungsstellensuche
Die Beraterinnen und Berater sprechen verschiedene Sprachen und können Lilia muttersprachlich und auch anonym beraten.
Der persönliche Besuch der Beratungsstelle ist dabei nicht notwendig. Lilia kann auch anrufen oder eine
E-Mail schreiben und bei manchen Stellen sogar per WhatsApp Kontakt aufnehmen.
Die Beraterinnen und Berater prüfen den Vertrag von Lilia. Sie arbeitet in Deutschland, daher muss der Vertrag den im deutschen Arbeitsrecht vorgesehenen Mindestbedingungen genügen, auch wenn sie die Arbeit über eine litauische private Vermittlungsagentur bekommen hat.
Lilia hat das Recht, für jede Stunde, die sie arbeitet, den gesetzlichen Mindestlohn zu bekommen. Dieser beträgt ab dem 01. Oktober 2022 12,00€ brutto. Wäre Lilias Arbeitgeberin eine Pflegefirma und keine Familie, hätte Lilia einen höheren branchenspezifischen Lohnanspruch, den Pflegemindestlohn von 13,90 € (ab 01.12.2023 14,15€). Urteil des Bundesarbeitsgerichts
Eine Unterteilung in „aktive“ oder „inaktive“ Arbeitszeit gibt es nach den arbeitsrechtlichen Regelungen nicht. Auch bloße Arbeitsbereitschaft – die vom Vermittler fälschlich als inaktiv bezeichnet wurde – gehört zur Arbeitszeit.
Nach diesen Regelungen ist es sowohl reguläre Arbeitszeit, wenn Lilia Tätigkeiten ausführt, als auch wenn sie sich vor Ort bereithält, um die Arbeiten auszuführen. Lilia muss sich im Haus aufhalten und hat keine Möglichkeit, über diese Zeit frei zu verfügen oder sich einer anderen Tätigkeit zu widmen. Daher ist es ihre Arbeitszeit. Jede Stunde von dieser Arbeitszeit – egal ob aktiv oder inaktiv – muss ihr bezahlt werden.
Um ihre Arbeitszeit zu dokumentieren, soll Lilia möglichst täglich die Arbeitsabläufe und deren Dauer aufschreiben: z. B. Dienstag 20.03.
7.30–8.00 Uhr Hilfe der Pflegebedürftigen beim Toilettengang
8.00–8.20 Uhr Hilfe beim Anziehen
8.20–9.00 Uhr Vorbereitung des Frühstücks
9.00–9.40 Uhr Hilfe beim Frühstück
9.40–10.15 Uhr Aufräumen nach dem Frühstück
10.15–11.15 Uhr Begleitung im Garten
11.15–12.00 Uhr Kuchen backen für die Pflegebedürftigen
Diese Aufzeichnung erleichtert Lilia die Geltendmachung ihrer Rechte und begründet eine Anzeige bei der zuständigen Kontrollbehörde (s. Schritt 5), falls Lilia sich für diesen Schritt entscheidet.
In Deutschland ist die Arbeitszeit im Arbeitszeitgesetz geregelt. Danach darf Lilia in der Regel nicht länger als acht Stunden (in Ausnahmefällen zehn Stunden) pro Tag beschäftigt werden. Diese Vorgabe richtet sich an ihren Arbeitgeber. Er ist verpflichtet, ihre Arbeitszeit so zu gestalten, dass dieser gesetzliche Rahmen eingehalten wird. Nach mehr als sechs Arbeitsstunden muss Lilia eine Pause von mindestens 30 Minuten und nach mehr als neun Arbeitsstunden von mindestens 45 Minuten bekommen. Lilia muss nach Beendigung der täglichen Arbeitszeit eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens elf Stunden haben. Diese Regeln gelten auch in der häuslichen Pflege.
Lilia ist nach der Beratung durch die Beratungsstelle entschlossen, für ihre Rechte zu kämpfen. Sie will den Mindestlohn, der ihr für ihre gesamte Arbeitszeit zusteht. Sie will auch, dass der Arbeitgeber bestraft wird und andere Pflegekräfte, die dort beschäftigt sind, auch ordnungsgemäß bezahlt werden. Es gibt in Deutschland bereits ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts, in dem das Recht auf die Vergütung für jede Arbeitsstunde bestätigt wurde (BAG 24.06.2021 5 AZR 505/20).
Um den Mindestlohn einzufordern, muss sich Lilia an das Arbeitsgericht wenden. Es gibt keine Behörde in Deutschland, die dies für sie tun kann. Das zuständige Arbeitsgericht befindet sich dort, wo der Arbeitgeber seinen Sitz hat. Lilia kann sich auch an das Arbeitsgericht wenden, das in dem Ort liegt, in dem sie gearbeitet hat. Die Adresse des Arbeitsgerichts findet Lilia mithilfe dieser Suchmaschine:
https://www.justizadressen.nrw.de/de
Um die Klage einzureichen, braucht Lilia die Berechnung des gesetzlichen Mindestlohnes:
Mit Hilfe der Zeitlisten, die sie geführt hat, muss sie ihre Arbeitszeit zusammenrechnen und mit dem Betrag von 12,00 € (Höhe des Mindestlohnes zur Zeit der Beschäftigung 2023) multiplizieren. Nach dem Abzug des Lohnes, den sie bereits bekommen hat, steht ihr der Differenzbetrag noch zu.
Lilia kann sich an einen Rechtsanwalt wenden, der sie vertritt. Einen Rechtsanwalt kann Lilia z. B. über die Botschaft oder durch eine Empfehlung aus dem Bekanntenkreis finden.
Auch auf den Webseiten der Rechtsanwaltskammer gibt es Suchmöglichkeiten, über die man Rechtsanwälte mit verschiedenen Sprachkenntnissen und Spezialisierungen finden kann. Ein Beispiel ist die Suchmaschine des Deutschen Anwaltsvereins:
https://anwaltauskunft.de/magazin
Außerdem kann auch eine Beratungsstelle bei der Anwaltssuche behilflich sein.
Wenn Lilia Mitglied einer Gewerkschaft ist, kann ein gewerkschaftlicher Rechtsanwalt sie kostenfrei vor Gericht vertreten.
Die Schritte des arbeitsgerichtlichen Verfahrens sind im Kapitel 2: „Nichtauszahlung des Lohnes“ beschrieben.
Wenn der Mindestlohn nicht ausgezahlt wird, ist das eine Ordnungswidrigkeit, die bestraft wird. Lilia kann den Fall daher bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit anzeigen.
Am besten macht sie in ihrer Anzeige genaue Angaben zu ihren Arbeitszeiten sowie ihren Tätigkeiten und fügt den Arbeitsvertrag mit den Lohnabrechnungen in Kopie bei.
Die zuständige Stelle der Finanzkontrolle Schwarzarbeit findet Lilia mit dieser Suchmaschine:
Lilia kann sich persönlich bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit melden, eine Anzeige erstatten und eine Aussage machen. Wenn das nicht möglich ist, kann sie auch online eine Mitteilung abgeben:
https://www.zoll.de/DE/Kontakt/Meldung_ FKS/kontakt_node.html
Der Arbeitgeber kann mit bis zu 500.000 € bestraft werden, wenn die Ermittlungen die Vorwürfe von Lilia bestätigen.
Die Arbeit rund um die Uhr verstößt gegen das Arbeitszeitgesetz. Lilia kann sich daher auch an die Arbeitsschutzbehörde vor Ort wenden, die eine Aufsichtsbehörde u. a. über die Arbeitszeit ist:
https://lasi-info.com/ueber-den-lasi/ arbeitsschutzbehoerden-der-laender
Der Arbeitgeber kann kontrolliert und für den Verstoß mit einer Geldbuße von bis zu 15.000 € bestraft werden.
Diese Behörden können nicht helfen, den Lohn geltend zu machen. Aber sie können die Dienstleistungsfirma überprüfen und dafür sorgen, dass anderen Beschäftigten nicht das gleiche passiert wie Lilia.