Hier finden Sie eine Sammlung relevanter Rechtsnormen in Verbindung mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit.
Grundprinzipien der Sozialkoordinierung:
Die Berechtigten
Quelle: EUR-Lex
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG)
Das AGG ist das einheitliche zentrale Regelungswerk in Deutschland zur Umsetzung von vier europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien, die seit dem Jahr 2000 erlassen worden sind. Mit dem AGG wurde ein Gesetz geschaffen, das den Schutz vor Diskriminierung aus rassistischen Gründen oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität durch private Akteure (z. B. Arbeitgeber, Vermieter, Anbieter von Waren und Dienstleistungen) umfassend regelt.
Quelle: Antidiskriminierungsstelle des Bundes
Eine gute Kurzdarstellung zur Entwicklung der Arbeitnehmerfreizügigkeit und weiterer dafür relevanter Rechtsnormen auf EU-Ebene (z.B. zur Anerkennung von Berufsqualifikationen oder zur grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung) finden Sie hier.
Hier finden Sie eine Zusammenstellung wichtiger Gerichtsurteile für mobile EU-Bürgerinnen und -Bürger.
Der Arbeitnehmerstatus in § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU ist europarechtlich zu bestimmen. Ausführungen dazu unter „SGB II-Leistungsausschluss für EU-Staatsangehörige mangels Arbeitnehmerstatus“.
Unionsbürger/innen, die vorübergehend keine Erwerbstätigkeit mehr ausüben, behalten in besonderen Fällen (vorübergehende Arbeitsunfähigkeit, unfreiwillige Arbeitslosigkeit oder Berufsausbildung, vgl. § 2 Abs. 3 FreizügG/EU) den Arbeitnehmerstatus (und damit ihr Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit, Artikel 45 AEUV). So kann z.B. eine Frau, die vorübergehend ihre Erwerbstätigkeit wegen der körperlichen Belastungen in ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt des Kindes aufgibt, die für die Arbeitnehmerfreizügigkeit relevante „Arbeitnehmereigenschaft“ behalten (EuGH C-507/12 Saint Prix). Wenn eine Person dem Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats während einiger Monate tatsächlich nicht zur Verfügung gestanden hat, bedeutet dies nicht, dass sie während dieser Zeit nicht weiterhin in den betreffenden Arbeitsmarkt eingegliedert ist, sofern sie innerhalb eines angemessenen Zeitraums (z.B. nach der Geburt des Kindes) ihre Erwerbstätigkeit wieder aufnimmt oder eine andere Beschäftigung findet.
Unionsbürgern/innen wird über die Freizügigkeit das Recht eingeräumt, sich in einem anderen EU-Mitgliedstaat aufzuhalten und frei zu bewegen, um dort Arbeit zu suchen. Ein Zeitraum von sechs Monaten ermöglicht es, im Aufnahmemitgliedstaat Stellenangebote zu sondieren und sich auf passende Stellen zu bewerben. Arbeitsuchende haben ein Aufenthaltsrecht von mehr als sechs Monaten, sofern sie im Aufnahmemitgliedstaat nach wie vor auf Arbeitsuche sind und eine „echte Chance“ haben (mit begründeter Aussicht auf Erfolg, vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU), eine Beschäftigung zu finden (EuGH C-292/89 Antonissen).
In dem im Juli 2017 vom Bundesfinanzhof (BFH Az: III R 18/16) entschiedenen Fall lebte die Klägerin in dem betroffenen Zeitraum mit ihrer minderjährigen Tochter in Deutschland und bezog Arbeitslosengeld II („Hartz IV“). Der Vater des Kindes lebte und arbeitete in Frankreich. Er erhielt dort eine dem deutschen Kindergeld vergleichbare Familienleistung. Der BFH entschied, dass das französische „Kindergeld“ vorrangig sei und der Klägerin daher kein deutsches Kindergeld zustehe.
Dieses ist in zweierlei Hinsicht von Bedeutung:
1. Die Entscheidung einer ausländischen (hier französischen) Behörde, einen kindergeldähnlichen Anspruch zu bejahen und die Leistung zu gewähren, ist für die deutschen Behörden und Gerichte bindend. Nach dem Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit in der Europäischen Union (EU) dürfen die Familienkassen und die Finanzgerichte nicht anzweifeln oder überprüfen, ob tatsächlich ein materieller Anspruch auf Kindergeld bzw. vergleichbare Familienleistung auf Basis des ausländischen Rechts besteht.
Liegt ein Anspruch auf Kindergeld (oder vergleichbare Leistung) in einem anderen EU-Mitgliedstaat und in Deutschland vor, ist die Frage, welcher Anspruch Vorrang hat, europarechtlich zu klären: Die Familienkasse prüft bei einer solchen Anspruchskonkurrenz die Regelungen zur Rangfolge der EU-Verordnung zur Koordinierung der Sozialsicherungssysteme
(EU-VO Nr. 883/2004).
2. Welcher Anspruch Vorrang hat, richtet sich nach den Umständen, aufgrund derer die betroffenen Personen – hier Mutter und Vater – den jeweiligen Rechtsvorschriften in einem EU-Mitgliedstaat unterworfen sind: Der Vater war erwerbstätig; die Mutter bezog Arbeitslosengeld II („Hartz IV“). Der BFH urteilte, dass das Arbeitslosengeld II keine an eine bisherige Beschäftigung anknüpfende Entgeltersatzfunktion habe (anders hingegen Arbeitslosengeld I). Es stelle keine „Leistung bei Arbeitslosigkeit“ nach Verordnungsrecht dar (Art.11 Abs. 3 der VO), sondern vielmehr eine beitragsunabhängige Geldleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts (Art. 70 der VO). Vorrang muss daher der Kindergeldanspruch desjenigen haben, der in einem Mitgliedstaat einer Arbeit nachgeht – also der in Frankreich lebende Vater
(Art. 68 Abs. 1 der VO). Deutschland war in diesem Fall „nachrangiger“ Staat.
(BFH Pressemitteilung).
Der Kindergeld-Anspruch im nachrangigen Staat „ruht“ in der Höhe der vergleichbaren Leistung, die in dem anderen EU-Mitgliedstaat ausgezahlt wird. Ist die Leistung dort niedriger als in Deutschland, kommt die Zahlung eines Kindergeld - „Unterschiedsbetrags“ (auch Differenzbetrag genannt) in Betracht. Mehr Informationen zur Rangfolge von Ansprüchen nach EU-Koordinierungsrecht finden Sie hier.
Die an den Vater in Frankreich ausgezahlte Familienleistung lag höher als das in Deutschland zu leistende Kindergeld. Daher kam die Zahlung eines Unterschiedsbetrags hier nicht in Frage.
Der Bundesfinanzhof (BFH) entschied über einen Fall, in dem ein Familienvater für seine Zwillinge seit 1998 deutsches Kindergeld bezog (BFH vom 9. Dezember 2020, III R 73/18). Die Familie lebte in Deutschland. Die Frau war nicht erwerbstätig. Im Jahr 2000 nahm der Familienvater in den Niederlanden eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung auf. Darüber machte er der Familienkasse in Deutschland keine Meldung, so dass die Familie unverändert das deutsche Kindergeld bezog. Jahre später erfuhr die Familienkasse von der Erwerbstätigkeit in den Niederlanden, weil die Zwillinge 2016 volljährig wurden. Sie hob die Festsetzung des Kindergeldes für mehrere Jahre in der Höhe auf, in der ein Anspruch auf Familienleistungen in den Niederlanden bestanden hätte. Die Aufnahme einer Beschäftigung des Familienvaters in den Niederlanden stellten für den Anspruch und die Festsetzung des Kindergeldes in Deutschland relevante „Änderungen“ dar
(§ 70 Abs. 2 EstG).
Wenn in mehreren EU-Mitgliedstaaten Ansprüche auf vergleichbare Leistungen bestehen – in diesem Fall Familienleistungen –, regelt („koordiniert“) das EU-Recht die Rangfolge dieser Ansprüche. Mehr Informationen zur Rangfolge von Ansprüchen nach EU-Koordinierungsrecht finden Sie hier. Dies betrifft auch Fälle, in denen erst später Umstände eintreten, aus welchen sich ein weiterer Anspruch in einem anderen EU-Mitgliedstaat ergibt (z.B. durch eine Beschäftigungsaufnahme).
In diesem Fall wurde das EU-Koordinierungsrecht relevant, als der Familienvater die neue Beschäftigung in den Niederlanden antrat. Diese Koordinierungsregeln gelten auch dann, wenn sich - wie hier im Nachhinein - die für die Familienleistungen entscheidenden Umstände verändern. Es besteht kein Wahlrecht für die Betroffenen. Da ein Anspruch aufgrund einer Beschäftigung vorrangig vor einem Anspruch ist, der sich nach dem Wohnort richtet, war der niederländische Träger für Familiengeld mit Aufnahme der Beschäftigung vorrangig zuständig (Artikel 68 Abs. 1 Buchst. 1 der EU-Verordnung Nr. 883/2004); die Familienkasse als deutscher Träger nachrangig.
Der vorrangig zu bedienende Anspruch auf niederländische Familienleistungen war auch nicht deshalb zu verneinen, weil der Familienvater als Kindergeldberechtigter keinen Antrag auf Familienleistungen in den Niederlanden gestellt hatte. Der beim nachrangigen Träger (hier Deutschland) gestellte Antrag auf Kindergeld ist so zu behandeln, als wäre er beim vorrangig zuständigen Mitgliedstaat (hier die Niederlande) gestellt worden (Art. 68 Absatz 3 Buchst. b der EU-Verordnung Nr. 883/2004). Dies wirkt sich laut BFH auch auf erst später eintretende Umstände aus, wie die Beschäftigungsaufnahme in den Niederlanden, die der Familienvater unter Verletzung seiner Mitwirkungspflichten der Familienkasse nicht gemeldet hatte.
Fazit: Der Anspruch auf kindergeldähnliche Familienleistungen in einem anderen EU-Mitgliedstaat, der hier aufgrund der Beschäftigungsaufnahme des Familienvaters vorrangig wurde, ist auch dann nachträglich auf das hier in Deutschland gewährte Kindergeld anzurechnen, wenn der Kindergeldberechtigte die ihm im anderen EU-Mitgliedstaat zustehenden Familienleistungen dort nicht beantragt und bezogen hat.
Den Fall um den Anspruch auf Kindergeld eines in Deutschland lebenden Vaters und der von ihm geschiedenen, in Polen lebenden Ehefrau, entschied der Bundesfinanzhof (BFH Az: III R 17/13) im Februar 2016. Nach der Entscheidung war die Mutter, die mit ihrem Sohn in Polen in einem Haushalt lebte, nach deutschem Recht kindergeldberechtigt, nicht der klagende Vater.
In Fällen, in denen Eltern nicht gemeinsam mit ihrem Kind in einem Haushalt leben, sondern in unterschiedlichen EU-Mitgliedstaaten, kann der Anspruch auf deutsches Kindergeld bei dem Elternteil liegen, der nicht in Deutschland, sondern in einem anderen EU-Mitgliedstaat lebt.
Anspruch auf Kindergeld hat nach deutschem Recht unter anderem, wer in Deutschland einen Wohnsitz oder den gewöhnlichen Aufenthalt hat, § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Das ist in diesem Fall nur der Vater. Aufgrund der einschlägigen europarechtlichen Vorschriften (Art. 67 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009) wird jedoch unterstellt, dass beide Elternteile in Deutschland den Wohnsitz haben und unter die deutschen Rechtsvorschriften fallen
(EuGH C-378/14 „Trapkowski“). Dieser „Wohnsitzfiktion“ tut auch keinen Abbruch, dass die in Polen lebende Mutter vom Vater geschieden ist, denn nach Kindergeldrecht ist nicht relevant, ob die Eltern verheiratet sind.
Für die Frage, welchem Elternteil das Kindergeld auszuzahlen ist, bestimmt sich nach dem jeweiligen nationalen Recht: Bei getrennt lebenden Eltern ist nach dem deutschen Einkommensteuergesetz entscheidend, wer mit dem Kind in einem gemeinsamen Hausstand lebt.
Da bevorzugt dem Elternteil das Kindergeld zukommt, der mit dem Kind zusammenlebt, ist – aufgrund der „Wohnsitzfiktion“ – die in Polen lebende Mutter bezugsberechtigt, § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG. Daran ändert sich auch nichts, wenn sie bzw. der im EU-Ausland lebende Elternteil noch keinen Antrag auf deutsches Kindergeld gestellt hat (Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009).
Der Antrag auf Kindergeld kann auch bei dem für Familienleistungen zuständigen Träger in dem anderen EU-Mitgliedstaat gestellt werden. Dieser tritt dann mit der zuständigen deutschen Familienkasse in Verbindung. Es findet ein Informationsaustausch und eine Prüfung zur Rangfolge der Ansprüche (ggf. zur Zahlung des Unterschiedsbetrags durch den nachrangigen Staat) statt.
Weitere Informationen zum Thema Kindergeld sind erhältlich in unserer Infothek.
In dem vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fall (BVerwG Az. 5 C 36.16) traten zwei Kinder mit deutscher Staatsangehörigkeit als Kläger auf, die nach der Trennung ihrer Eltern 2009 von Bremen nach Portugal gezogen waren. Die alleinerziehende Mutter unterhielt den Wohnsitz in Portugal, lebte aber auch weiterhin in Bremen, da sie bei einer deutschen Fluggesellschaft tätig war. Nachdem der Vater der Kinder ab Januar 2010 die Unterhaltszahlungen eingestellt hatte, beantragte die Mutter für die Kinder Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz (UVG). Die Bremer Behörde lehnte den Antrag mit dem Hinweis ab, dass die Kinder nicht bei ihrer Mutter in Deutschland lebten.
Der Unterhaltsvorschuss soll zum Wohl des minderjährigen Kindes dafür sorgen, dass unregelmäßige oder ausfallende Unterhaltszahlungen eines Elternteils kompensiert werden. Den Anspruch eines Kindes auf Unterhaltsvorschuss regelt das UVG. Es sieht vor, dass das/die Kind/er bei dem alleinerziehenden Elternteil in Deutschland lebt/leben (Wohnsitzerfordernis).
Weil die Voraussetzung zum Wohnsitz aus Sicht der Bremer Behörde nicht erfüllt war (da die Mutter in Portugal lebte) lehnte sie einen Unterhaltsvorschuss ab. Das Bundesverwaltungsgericht entschied, dass das Wohnsitzerfordernis des Kindes im Inland wegen Vorrangs der im EU-Recht gewährleisteten Freizügigkeit der Arbeitnehmer/innen nicht anwendbar sei:
Ein/e Arbeitnehmer/in mit der Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaates genießt die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie inländische Arbeitnehmer/innen (Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft). Der Unterhaltsvorschuss stellt eine solche soziale Vergünstigung dar. Zwar steht der Anspruch auf Unterhaltsvorschuss dem Kind zu und nicht dem Elternteil. Dennoch wird diese soziale Vergünstigung auch dem alleinerziehenden Elternteil zugerechnet, der für Erziehung und Lebensunterhalt des Kindes zu sorgen hat. Die Freizügigkeitsrechte der alleinerziehenden Mutter als (Wander-)Arbeitnehmerin konnten daher von ihren Kindern geltend gemacht werden.
Das Bundesverwaltungsgericht nahm an, dass mit dem Wohnsitzerfordernis im Inland (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG) eine von der Arbeitnehmerfreizügigkeit verbotene, mittelbare Diskriminierung vorlag. Als mittelbar diskriminierend gelten Voraussetzungen im nationalen Recht, die zwar unabhängig von der Staatsangehörigkeit gelten, aber die sich insbesondere zum Nachteil von Wanderarbeitnehmer/innen auswirken. Hier war die Mutter mit dem Wohnsitz in Portugal durch die Wohnsitzklausel im UVG im Vergleich zu inländischen Arbeitnehmern/innen benachteiligt.
Die Richter urteilten, dass die mit der mittelbaren Diskriminierung einhergehende Ungleichbehandlung der Mutter als Wanderarbeitnehmerin auch nicht durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt war:
Die Verbundenheit mit dem EU-Mitgliedstaat, der den Unterhaltsvorschuss als soziale Vergünstigung leistet, wird damit Rechnung getragen, dass ein/e Arbeitnehmer/in eine mehr als nur geringfügige Erwerbstätigkeit („Minijob“) ausübt. Schließlich werden – verbunden mit der Arbeit – Abgaben geleistet, die dazu beitragen, sozialpolitische Maßnahmen, wie den Unterhaltsvorschuss, zu finanzieren.
Soweit der Unterhaltsvorschuss in seiner Höhe an die Lebensverhältnisse in Deutschland anknüpft und dies sichergestellt werden soll, ist keine Wohnsitzklausel erforderlich. Dieses Ziel kann auch mit einer gesetzlichen Regelung erreicht werden, bei der niedrigere Lebenshaltungskosten im Wohnsitzmitgliedstaat des Kindes zu berücksichtigen sind.
Der Ausschluss von Leistungen nach dem SGB II und XII für Unionsbürger/innen („besondere beitragsunabhängige Geldleistungen“), die kein Aufenthaltsrecht nach der Freizügigkeitsrichtlinie RL 2004/38/EG haben (in Deutschland umgesetzt durch das FreizügG/EU), wurde durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) mit seiner Entscheidung vom 11. November 2014 (C-333/13 Dano) als rechtmäßig bestätigt. Nicht erwerbstätige Unionsbürger/innen, die sich nach den Vorgaben der RL 2004/38/EG länger als drei Monate, aber weniger als fünf Jahre im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten und nicht über ausreichende Existenzmittel für sich oder ihre Familienangehörigen (und über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz) verfügen, haben mangels Aufenthaltsrecht im Hinblick auf Sozialleistungen keinen unionsrechtlichen Anspruch auf Gleichbehandlung mit den Angehörigen des Aufnahmemitgliedstaats.
Im Fall C-299/14 García-Nieto entschied der EuGH, dass der Aufnahmemitgliedstaat anderen Personen als Arbeitnehmer/innen, Selbständigen oder Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, während der ersten drei Monate ihres Aufenthalts jegliche Sozialleistungen verweigern darf (Ausnahmebestimmung des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG).
Für Unionsbürger/innen, die sich zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten und darüber ein Aufenthaltsrecht haben, stellte der EuGH in seiner Entscheidung vom
15. September 2015 (C-67/14 Alimanovic) klar, dass sie von bestimmten beitragsunabhängigen Geldleistungen (z.B. nach SGB II) ausgeschlossen werden dürfen. Daraufhin hat das Bundessozialgericht (BSG) in seinen Entscheidungen vom
16. Dezember 2015 und 20. Januar 2016 (B 14 AS 15/14 R; B 14 AS 15/15 R; B 14 AS 35/15 R) die Verfassungsmäßigkeit des Ausschlusses von Leistungen nach dem SGB II zwar bestätigt, gleichzeitig aber festgestellt, dass dieser Ausschluss nur deshalb rechtmäßig ist, weil arbeitsuchende Unionsbürger/innen ihre Existenzsicherung nach SGB XII sicherstellen können.
Damit ließ das BSG die Gewährung von Leistungen nach dem SGB XII für arbeitsuchende Unionsbürger/innen als Ermessensleistung „im Einzelfall“
(§ 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII) ausdrücklich zu. Diese Leistungen dürfen nach dem Urteil des BSG zwar nur dann bewilligt werden, wenn es im Einzelfall nach behördlichem Ermessen geboten ist und die Ausländerbehörde nicht den Verlust des Freizügigkeitsrechts festgestellt hat. Allerdings reduziert sich das Ermessen auf null, sobald der Aufenthalt der Unionsbürger/innen verfestigt ist. Der Aufenthalt ist laut BSG ab einer Dauer von sechs Monaten als verfestigt anzusehen. Das BSG begründet seine Entscheidung mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Artikel 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikel 20 Abs. 1 GG und dem tatsächlichen Aufenthalt der Unionsbürger/innen in Deutschland, der von der Ausländerbehörde faktisch geduldet werde.
Die Begründung des Urteils des BSG ist teilweise auf Kritik gestoßen. Nicht alle Sozialgerichte in Deutschland sind dieser Rechtsprechung gefolgt. Der Gesetzgeber hat sich daher veranlasst gesehen hier tätig zu werden.
Der Gesetzgeber hat auf die Rechtsprechung reagiert und die Leistungsausschlüsse nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II und § 23 SGB XII durch das Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch vom 22. Dezember 2016 neu gefasst. Zu den aktuellen Regelungen im Einzelnen erhalten Sie Informationen in unserer Infothek.
Entsprechend dem Urteil des BSG vom 30. Januar 2013 (B 4 AS 54/12 R) muss beachtet werden, dass der Ausschluss von Leistungen nach dem SGB II und XII auch nach der gesetzlichen Neuregelung nicht greift, wenn sich Unionbürger/innen zumindest auch zu anderen Zwecken als der Arbeitsuche in Deutschland aufhalten. Dies gilt insbesondere für die Familiengründung. Der Staat habe eine besondere Schutzpflicht aus Artikel 6 GG für die Rechtsposition des Kindes sowie dessen Anspruch auf Ermöglichung oder Aufrechterhaltung eines familiären Bezuges zu beiden (auch unverheirateten) Elternteilen von Geburt an.
Der Arbeitnehmerstatus in § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU ist europarechtlich zu bestimmen. Nach § 2 Abs. 2 Nr. FreizügG/EU sind Unionsbürger/innen als Arbeitnehmer/innen freizügigkeitsberechtigt. Als Arbeitnehmer/innen sind sie nicht vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II erfasst. Folgende Aspekte sind für die Feststellung relevant, ob ein Arbeitnehmerstatus vorliegt:
Das Bundessozialgericht (BSG) hat in seiner Entscheidung vom 19. Oktober 2010
(B 14 AS 23/10 R) ausgeführt, dass ein Beschäftigungsverhältnis (im konkreten Fall eines Handwerkshelfers) mit einer Wochenarbeitszeit von 7,5 Stunden und einem monatlichen Entgelt von 100 EUR die Arbeitnehmereigenschaft i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. FreizügG/EU begründet. Diese Entscheidung hat das BSG per Urteil vom 12. September 2018 (B 14 AS 18/17 R) bestätigt.
In dem vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) entschiedenen Fall ging es um einen polnischen Familienvater, der in Deutschland seit März 2013 bis November 2016 als Arbeitnehmer tätig war, bis er arbeitslos wurde (EuGH C-181/19). Seine Kinder gingen in Deutschland ab August 2016 zur Schule. Die von ihm getrennte Ehefrau war 2016 wieder nach Polen zurückgekehrt. Als sein Anspruch auf Arbeitslosengeld endete, beantragte er Grundsicherungsleistungen nach SGB II. Das Jobcenter Krefeld lehnte seinen Antrag ab: Er halte sich ausschließlich zum Zweck der Arbeitsuche in Deutschland auf und sei somit nicht leistungsberechtigt. Bei einem Aufenthaltsrecht nach Artikel 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 (Freizügigkeitsverordnung), das ihm über seine Kinder zustehe, gelte ein Leistungsausschluss nach SGB II (§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchstabe c alter Fassung).
Der EuGH urteilte im Oktober 2020, dass dem Kläger aufgrund des Schulbesuchs seiner Kinder ein Aufenthaltsrecht nach Artikel 10 Freizügigkeitsverordnung zustehe. Es stelle in der Folge eine Ungleichbehandlung gegenüber Inländern im Bereich der Leistungen der sozialen Sicherheit dar, wenn einer Person wie dem Kläger gemäß einer innerstaatlichen Vorschrift von jeglichem Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen werde.
Das Aufenthaltsrecht des Klägers und das seiner Kinder als Familienangehörige hat sich zunächst aus seiner Arbeitnehmereigenschaft abgeleitet. Kindern steht in diesem Fall ein eigenständiges und von den Eltern unabhängiges Aufenthaltsrecht zur fortgesetzten Teilnahme am Schulunterricht oder an einer Berufsausbildung zu. Dieses eigenständige Aufenthaltsrecht der Kinder erfordert dann aber umgekehrt die Anerkennung eines entsprechenden Aufenthaltsrechts des Elternteils, der die elterliche Sorge für diese Kinder tatsächlich ausübt (vgl. auch Info-Box zu dem Aufenthaltsrecht nach Artikel 10 Freizügigkeitsverordnung). Das Aufenthaltsrecht nach Artikel 10 endet dann, wenn das Kind seine (Schul-)Ausbildung abgeschlossen hat.
Das Aufenthaltsrecht nach Artikel 10 Freizügigkeitsverordnung setzt nach ständiger Rechtsprechung voraus, dass der betroffene Elternteil im Aufnahmemitgliedstaat vorher „Zugang zum Arbeitsmarkt“ gehabt hat. Das war hier der Fall, da der Kläger bevor er arbeitslos wurde, in Deutschland Arbeitnehmer war. EU-Bürger/innen, die in den Aufnahmemitgliedstaat eingereist sind, um dort eine erste Beschäftigung zu suchen, können sich demgegenüber nicht darauf berufen.
Der EuGH hat entschieden, dass ein automatischer Leistungsausschluss für EU-Bürger/innen, die ihr Aufenthaltsrecht gemäß Artikel 10 der Freizügigkeitsverordnung aus dem Schulbesuch ihrer Kinder ableiten, europarechtswidrig ist. Dieses Aufenthaltsrecht besteht unabhängig von dem aus der Arbeitnehmereigenschaft folgenden Aufenthaltsrecht. Es bleibt deshalb bei Verlust des Arbeitnehmerstatus erhalten. Wer sein Aufenthaltsrecht aus der Freizügigkeitsverordnung herleitet, für den gilt auch der Gleichbehandlungsgrundsatz nach Artikel 7 der Freizügigkeitsverordnung. Dieser bestimmt im Wesentlichen, dass ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, im Aufnahmemitgliedstaat die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen genießt wie inländische Arbeitnehmer.
Der deutsche Gesetzgeber hat auf das EuGH-Urteil reagiert und den Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe c SGB II sowie aufgrund der Feststellungen des EuGH auch den gleichlautenden § 23 Abs. 3 Satz 1 Nummer 3 SGB XII (alter Fassung) zum 1. Januar 2021 gestrichen. Dementsprechend können nun auch EU-Bürger/innen mit einem aus dem Schulbesuch ihrer Kinder abgeleiteten Aufenthaltsrecht Leistungen nach dem SGB II und SGB XII erhalten, soweit die entsprechenden Leistungsvoraussetzungen gegeben sind.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) bestätigte mit seinem Urteil vom 7. April 2016
(C-284/15 Office national de l’emploi) den Wortlaut des Art. 61 Abs. 2 der EU-Verordnung zur Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit (EG) 883/2004. Danach steht es bei Gewährung des Arbeitslosengeldes jedem Aufnahmemitgliedstaat frei, die in einem anderen EU-Mitgliedstaat zurückgelegten Versicherungszeiten nur dann zu berücksichtigen, wenn auch in dem Aufnahmemitgliedstaat nach dessen Vorschriften Versicherungszeiten zurückgelegt wurden.
Der in diesem Fall betroffene EU-Bürger aus Tschechien, der nach Belgien zur Arbeitsuche übersiedelte, hatte keinen Anspruch auf Gewährung von Arbeitslosengeld nach belgischem Recht auf Grundlage der in Tschechien zurückgelegten Versicherungszeiten.
EU-Staatsangehörige können Ansprüche auf Arbeitslosengeld nur in den EU-Mitgliedstaaten geltend machen, in denen sie auch Versicherungszeiten zurückgelegt haben.
In dem vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) verhandelten Fall C-777/18 ging es um einen ungarischen Staatsangehörigen, der an einem Glaukom am rechten Auge litt. Das linke Auge war bereits erblindet. Behandlungen in ungarischen Einrichtungen blieben ohne Erfolg. Mitte Oktober 2016 konsultierte der Betroffene einen Augenarzt in Recklinghausen. Der Arzt entschied am Tag der Untersuchung, dass der augenärztliche Eingriff dringend vorzunehmen sei. Am Folgetag wurde der Betroffene erfolgreich operiert. Der Antrag auf Erstattung der Behandlungskosten wurde von den ungarischen Behörden mit der Begründung abgelehnt, dass es sich bei dieser Versorgung um eine geplante Behandlung handele, für die es keine Vorabgenehmigung der Krankenversicherung des Betroffenen gab. Diese sei von den europäischen Vorschriften zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vorgeschrieben (Verordnung (EG) Nr. 883/2004).
Der EuGH stellte in seinem Urteil C-777/18 fest, dass eine Gesundheitsversorgung, die der Versicherte allein nach seinem eigenen Willen in einem anderen Mitgliedstaat als dem seines Wohnsitzes in Anspruch genommen hat, eine geplante Behandlung entsprechend den Koordinierungsvorschriften darstelle. Die Kostenübernahme hänge davon ab, dass der zuständige Träger des Wohnmitgliedstaats eine Vorabgenehmigung erteilt habe.
Es müsse aber unter „besonderen Umständen“ möglich sein, die Kosten erstattet zu bekommen, wenn der Betroffene wegen seines Gesundheitszustandes oder der Dringlichkeit einer Behandlung nicht die Möglichkeit hätte, eine Vorabgenehmigung zu beantragen oder deren Bearbeitung bei seiner Krankenversicherung abzuwarten. Dies habe die zuständige Krankenversicherung zu prüfen – unter der Kontrolle der nationalen Gerichte. Im vorliegenden Fall weist der Gerichtshof darauf hin, dass die kurz vor Abreise nach Deutschland in Ungarn erfolgte Untersuchung, deren Ergebnis die Dringlichkeit des augenärztlichen Eingriffs bestätigte, ein Indiz dafür darstellen kann, dass der Betroffene die Entscheidung des zuständigen Trägers über einen Genehmigungsantrag nicht hätte abwarten können. Dies müsse jetzt von dem zuständigen ungarischen Gericht geprüft werden.
Eine nationale Regelung – wie in Ungarn –, die die Übernahme der Kosten in allen Fällen ausschließt, wenn keine Vorabgenehmigung vorliegt, verstößt laut EuGH gegen die Richtlinie über grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung und stellt eine unverhältnismäßige Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs dar. Dies gelte auch für Krankenhausbehandlungen oder aufwändige Behandlungen außerhalb von Krankenhäusern; selbst hier müsse eine Kostenerstattung unter „besonderen Umständen“ möglich sein.