Scheinselbständigkeit

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Scheinselbstständigkeit

Fallbeispiel
Ricardo aus Italien ist ein ausgebildeter Trockenbauarbeiter. Trotz seiner Qualifikation und langjähriger Berufserfahrung ist es für ihn schwierig, eine unbefristete Vollzeitstelle zu finden. Zuletzt hatte er einen Probearbeitsvertrag mit einer Baufirma abgeschlossen. Nach einem Monat hat ihm sein Chef gesagt, dass er ihn zukünftig nur „mit Gewerbe“, also als Selbständigen, beschäftigen kann. Deshalb hat der Chef bereits ein Gewerbe für Ricardo angemeldet. Ricardo arbeitet wie bisher von 7 Uhr bis 16 Uhr, bekommt 10 € pro Stunde auf die Hand und sein Chef sagt ihm jeden Tag genau, was zu tun ist. Er kontrolliert auch, ob Ricardo seine Arbeit gut ausführt. Vor einigen Tagen hat Ricardo die Grippe erwischt. Sein Chef hat ihm am Telefon gesagt, dass er ihn für die Ausfalltage nicht bezahlen wird. Noch schlimmer: Beim Arztbesuch hat sich herausgestellt, dass Ricardo nicht mehr krankenversichert ist. Ricardo hat mit Freunden über seine Arbeitssituation gesprochen. Diese haben Ricardo davor gewarnt, dass er durch die Arbeit mit Gewerbe bei Kontrollen auf der Baustelle Probleme bekommen könnte. Ricardo dachte, dass er völlig legal beschäftigt sei. Er versteht seine Situation nicht und will seine Rechte klären.

1. Beratungsstellen

Durch die Gewerbeanmeldung ist Ricardo formell selbständig (und Gewerbetreibender) geworden. Als solcher hätte er beim Finanzamt eine Steuernummer beantragen und seinem Chef seine Arbeit in Rechnung stellen müssen. Er hätte sich zudem selbst krankenversichern müssen. Sein Chef hat für Ricardo weder Kranken- noch Rentenversicherungsbeiträge gezahlt. Darauf haben Gewerbetreibende auch keinen Anspruch, ebenso wenig auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Tariflohn und Urlaub. In Ricardos Fall spricht jedoch einiges dafür, dass es sich um keine echte Selbständigkeit, sondern um eine sogenannte „Scheinselbständigkeit“ handelt, er also in Wahrheit weiterhin Arbeitnehmer in der Baufirma ist. Sonst müsste er als Selbständiger die Freiheit haben, zu entscheiden, für wen er Aufträge ausführt. Er müsste selbst bestimmen können, wann er zur Baustelle kommt und wann er sie verlässt. Sein Chef dürfte ihm keine Anweisungen geben, wie er seine Arbeit auszuführen hat. Normalerweise müsste Ricardo auch eigenes Werkzeug besitzen, um die Arbeiten auszuführen. Das alles trifft im Fall von Ricardo nicht zu. Hinzu kommt, dass man die gleiche Arbeit beim gleichen Arbeitgeber nicht zunächst mit einem Arbeitsvertrag und anschließend als Gewerbetreibender ausführen darf. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass Ricardo nur zum Schein ein Gewerbe ausüben sollte und in Wahrheit ein Arbeitnehmer ist.

Für die erste Einschätzung seines Status kann Ricardo eine von vielen Checklisten zum Thema Scheinselbständigkeit nutzen, die online zu finden sind:

https://www.handwerk-magazin.de/ scheinselbststaendigkeit/383/95/download

Um die grundlegenden Informationen über seinen Status zu bekommen, kann sich Ricardo an eine arbeitsrechtliche Beratungsstelle wenden:

Spezifische arbeitsrechtliche Beratungsstellen:

https://www.bema.berlin/

https://www.arbeitundleben.de/ beratungsstellen/beratungsstellen

https://www.faire-mobilitaet.de/ beratungsstellen

Eine Übersicht aller Beratungsstellen nach thematischem Schwerpunkt sowie auch nach Sprache findet Ricardo hier:

https://www.eu-gleichbehandlungsstelle.de/ beratungsstellensuche

Dort erfährt er auch, welche Rechte er als Scheinselbständiger hat. Eine Beratungsstelle kann jedoch nicht verbindlich feststellen, ob Ricardo scheinselbständig – also nach objektiven Kriterien ein Arbeitnehmer – ist. Dazu sind bestimmte Institutionen befugt, wie die Deutsche Rentenversicherung, Finanzämter und Arbeitsgerichte.

2. Clearingstelle der Deutschen Rentenversicherung

Ricardo kann seinen Status als sozialversicherungspflichtiger Arbeitnehmer durch die Clearingstelle der Deutschen Rentenversicherung feststellen lassen. Sie ist die Prüfstelle für Fragen des sozialversicherungsrechtlichen Status von Personen. Dafür muss Ricardo ein Formular ausfüllen, das er sich auf der Website der Deutschen Rentenversicherung herunterladen kann:

Das Formular zur Feststellung als Sozialversicherter Arbeitnehmer findet Ricardo im Anhang unter Anlage XVI. PDF, 2 MB, Datei ist nicht barrierefrei

Beim Ausfüllen kann eine Beratungsstelle:

https://www.eu-gleichbehandlungsstelle.de/ eugs-de/eu-buerger/beratungsstellen-suche

oder eine Kontaktstelle der Deutschen Rentenversicherung helfen. Dann muss Ricardo den Antrag bei folgender Adresse einreichen:

Deutsche Rentenversicherung
Bund Clearingstelle für sozialversicherungsrechtliche Statusfragen
10704 Berlin

Zur Prüfung des Status benötigt die Clearingstelle der Deutschen Rentenversicherung etwa vier Wochen. Danach bekommt Ricardo einen schriftlichen Bescheid.

Wenn die Clearingstelle bestätigt, dass Ricardo eigentlich als Arbeitnehmer und nicht als Selbständiger beschäftigt war, muss sein Arbeitgeber sämtliche Beiträge (sowohl den Arbeitgeber- als auch den Arbeitnehmeranteil) für alle Sozialversicherungen nachzahlen, also für Kranken-, Pflege-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Dies ist z. B. wichtig für Ricardos Anspruch auf Altersrente oder Arbeitslosengeld. Die Berechnungsgrundlage für die Beiträge ist der Baumindestlohn.

Sofern Ricardo bei seinem Arbeitgeber beschäftigt bleibt, darf der Arbeitgeber einen Teil der Sozialversicherungsbeiträge vom Arbeitslohn abziehen, aber nur bei den drei monatlichen Lohnzahlungen, nachdem die Rentenversicherung seinen Status als Arbeitnehmer festgestellt hat. Und der Arbeitgeber darf Sozialversicherungsbeiträge nur in der Höhe abziehen, die monatliche Pfändungsfreigrenze (1.402,28 € Stand 2023) überschreiten. Die Pfändungsfreigrenze ist ein Betrag, der Ricardo von dem Lohn nicht abgezogen werden darf, diese Summe braucht man nämlich für die Sicherung der Existenz. Wenn Ricardo beispielsweise 2.000 € netto verdient, bleiben 1.402,28 € geschützt. Der Arbeitgeber darf also maximal 597,72 € einbehalten.

Falls Ricardo nicht mehr weiter in der Baufirma arbeitet, kann der Arbeitgeber diese Beiträge nicht von ihm fordern. In diesem Fall muss er den gesamten Versicherungsbeitrag an die Sozialversicherung zahlen, also sowohl den Arbeitgeber- als auch den Arbeitnehmeranteil.

3. Arbeitsgericht

Als eigentlicher Arbeitnehmer, der nur zum Schein selbständig ist, hatte Ricardo mit Beginn des Arbeitsverhältnisses alle Rechte eines „normalen“ Arbeitnehmers, also den Anspruch auf den vorgeschriebenen Mindestlohn sowie den Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.

Sein Chef erkennt die Entscheidung der Clearingstelle und die daraus resultierenden Rechte allerdings nicht an und will sie Ricardo als einem selbständigen Gewerbetreibenden nicht gewähren. Um seine Rechte geltend zu machen, kann Ricardo beim Arbeitsgericht klagen, um das Arbeitsverhältnis feststellen zu lassen. Nur so kann er seine Rechte auch durchsetzen. Informationen zu diesem Verfahren stehen in Kapitel 2.

4. Krankenkasse

Zwar hat Ricardo als vermutlich Scheinselbständiger – und damit als Arbeitnehmer – das Recht, über seinen Arbeitgeber krankenversichert zu sein. Die Klärung seines Status kann aber mehrere Wochen in Anspruch nehmen. In dieser Zeit wäre Ricardo nicht krankenversichert. Die Krankenkasse kann ihm für diese Zeit Beiträge und hohe Säumniszuschläge wegen des ungeklärten Krankenversicherungsstatus berechnen. Aus diesem Grund ist es empfehlenswert, dass Ricardo die Krankenkasse über die Aufnahme der selbständigen Tätigkeit informiert und sich der freiwilligen Krankenversicherung für Selbständige anschließt. Zurzeit beträgt der niedrigste Krankenversicherungsbeitrag ca. 172 € pro Monat.

Deutschlandweit gibt es Stellen, die Personen auch ohne Krankenversicherung im akuten Fall medizinisch versorgen. Diese Versorgung ist aber auf ein Minimum beschränkt und ist keinesfalls einer Anmeldung bei der Krankenkasse vorzuziehen. Die genaue Information über solche Stellen kann Ricardo bei den sozialen Beratungsstellen bekommen:

https://www.eu-gleichbehandlungsstelle.de/ beratungsstellensuche

Falls die Clearingstelle feststellt, dass Ricardo tatsächlich scheinselbständig war, muss sein Arbeitgeber die Beiträge zur Krankenversicherung nachzahlen. Ricardo würden dann seine bereits gezahlten Beiträge erstattet werden.

5. Finanzamt

In jeden Fall muss Ricardo seine Einkünfte beim Finanzamt melden. Er sollte nachträglich eine Steuernummer beantragen und Rechnungen an seinen Arbeitgeber für seine Arbeitsleistungen ausstellen.

Durch die Gewerbeanmeldung ist er als formell Selbständiger verpflichtet, im nächsten Jahr eine Steuererklärung abzugeben. Wenn Ricardo dies nicht (rechtzeitig) macht, droht ihm ein Verspätungs­zuschlag oder sogar ein Zwangsgeld. Dafür würde die Steuer, die Ricardo entrichten muss, geschätzt. Das kann für ihn ungünstig sein.

Wenn das Finanzamt Ricardos Arbeitgeber nachweisen könnte, dass er die Steuer für seinen Lohn bewusst oder leichtfertig nicht abgeführt hat, müsste der Arbeitgeber die Steuer für Ricardo nachzahlen. Dafür sollte sich Ricardo bei einer spezialisierten Stelle, einem Steuerberater oder einer Fachanwältin für Steuerrecht, beraten lassen.

6. Gewerbeamt

Sobald die Clearingstelle festgestellt hat, dass Ricardo scheinselbständig war, endet auch seine gewerbliche Tätigkeit. Das heißt, dass Ricardo spätestens dann auch sein Gewerbe abmelden muss. Am besten macht er das mithilfe dieses Formulars:

Den Antrag auf Gewerbeabmeldung findet Ricardo im Anhang unter Anlage XVII. PDF, 247 KB, Datei ist nicht barrierefrei

7. Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS)

Scheinselbständigkeit ist strafbar. Der Chef von Ricardo könnte sich strafbar gemacht haben, weil er keine Beiträge zur Kranken-, Renten- und Sozialversicherung abgeführt hat. Ricardo kann ihn deshalb bei dem für den Sitz der Baufirma zuständigen Standort der Finanzkontrolle Schwarzarbeit anzeigen. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit ist eine Behörde, die Arbeitgeber kontrolliert und u. a. prüft, ob diese die Sozialbeiträge für die Beschäftigten korrekt abführen.

https://www.zoll.de/DE/Service/ Dienststellensuche/FKS/Schritt_02/ dienststellenfinder_node.html

Der Chef kann mit einem Bußgeld oder sogar Freiheitsstrafe bestraft werden.

Zuvor sollte sich Ricardo von einem Rechtsanwalt beraten lassen, weil das Risiko besteht, dass die Finanzkontrolle Schwarzarbeit auch sein Handeln überprüfen und strafrechtlich verfolgen könnte.

Ricardo kann sich persönlich bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit melden, eine Anzeige erstatten und eine Aussage machen. Wenn das nicht möglich ist, kann er auch online eine Mitteilung abgeben:

https://www.zoll.de/DE/Kontakt/Meldung_ FKS/kontakt_node.html

Zur effizienten Überprüfung und Bearbeitung des Falls, braucht die FKS möglichst viele Informationen. Daher sollte Ricardo Angaben zur Dauer des Beschäftigungsverhätnisses, der täglichen Arbeitszeit, den erhaltenen Beträgen, Zeugen usw. machen.