EuGH zu Ausweisung und Ausreise

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Freizügigkeit EuGH zu Ausweisung und Ausreise

Die auf ein entzogenes Freizügigkeitsrecht folgende „Ausweisungsverfügung“ wird nicht allein dadurch vollstreckt, dass der betroffene EU-Bürger das Hoheitsgebiet kurzzeitig verlässt. Vielmehr muss er laut Europäischem Gerichtshof den Mittelpunkt seiner persönlichen, beruflichen oder familiären Interessen in ein anderes Hoheitsgebiet verlegt haben.


Dem Urteil des Europäischen Gerichtshof (EuGH) vom 22.6.2021 (Az.: C-719/19 ) lag ein Rechtsstreit zwischen einem polnischen Staatsangehörigen und dem niederländischen Staat zugrunde: Die Niederlande wiesen den polnischen Staatsangehörigen aus (per „Ausweisungsverfügung“), nachdem ihm sein Freizügigkeits- und damit Aufenthaltsrecht von den zuständigen Behörden entzogen wurde (in Deutschland bezeichnet man den Entzug des Freizügigkeitsrechts als „Verlustfeststellung“). Er erfülle nicht die Voraussetzungen für einen Aufenthalt über drei Monate in einem anderen EU-Mitgliedstaat.

Info: Grundsätzlich dürfen sich EU-Bürger/innen innerhalb der Europäischen Union (EU) frei bewegen. Sie dürfen sich bis zu drei Monate in einem anderen EU-Mitgliedstaat aufhalten und benötigen hierzu lediglich einen gültigen Personalausweis (sog. kurzfristiges Aufenthaltsrecht). Will sich ein/e EU-Bürger/in länger als diese drei Monate im Zielland aufhalten, muss er/sie entweder dort arbeiten oder über ausreichende Existenzmittel für sich und begleitende Familienangehörige verfügen. Erfüllt ein/e EU-Bürger/in diese Voraussetzungen nicht, kann er vom Aufnahmestaat ausgewiesen werden, Artikel 15 Absatz 1 Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG (FreizügRL).

Bereits einen Monat später griff die Polizei den polnischen Staatsangehörigen wegen eines mutmaßlichen Ladendiebstahls erneut in den Niederlanden auf. Daraufhin wurde er in Polizeigewahrsam genommen und Abschiebehaft angeordnet. Hiergegen klagte er vor den niederländischen Gerichten, da er der Auffassung war, dass die Haftentscheidung rechtswidrig gewesen sei. Die Berufungsinstanz (Staatsrat, Niederlande) war der Auffassung, dass die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme nach seiner Rückkehr in die Niederlande davon abhinge, ob er im Zeitpunkt seiner Inhaftnahme erneut aufenthaltsberechtigt (gemäß Artikel 6 Absatz der FreizügRL) war und legte den Fall zu dieser Frage dem EuGH vor. Ebenfalls vom EuGH zu klären war dazu die Frage, ob der vorige Aufenthalt in den Niederlanden schon damit beendet wurde, dass der polnische Staatsbürger die Niederlande innerhalb der in der Ausweisungsverfügung gesetzten Frist verlassen hatte.

Ausführungen des EuGH
Der EuGH stellte in seinem Urteil klar, dass dem/der betroffenen EU-Bürger/in ein neuerliches Freizügigkeits- und damit ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat erst dann wieder zustehen kann, wenn er/sie den vorigen Aufenthalt in Folge einer „Ausweisungsverfügung“ tatsächlich und wirksam beendet hatte. Eine bloße Ausreise eines EU-Bürgers/einer EU-Bürgerin aus dem Hoheitsgebiet reiche dafür nicht aus. Im Ergebnis müsse er oder sie den Mittelpunkt der persönlichen, beruflichen oder familiären Interessen in ein anderes Hoheitsgebiet verlegt haben. Eine pauschalisierte Mindestdauer des Aufenthalts in einem anderen Hoheitsgebiet sah der Gerichtshof als unvereinbar mit der fundamentalen Bedeutung der Freizügigkeit an. Maßgebliche Kriterien für eine tatsächliche und wirksame Beendigung des Aufenthalts seien vielmehr:

  • Dauer der Abwesenheit: Je länger die Abwesenheit der betroffenen Person vom Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats dauert, desto eher belegt sie die tatsächliche und wirksame Beendigung ihres Aufenthalts; währt sie hingegen nur wenige Tage oder gar Stunden, so weist dies eher auf das Fortbestehen des ursprünglichen Aufenthalts hin.
  • Aufenthaltsbezogene Bindungen: Einzelfallbezogen zu berücksichtigen sind darüber hinaus solche Umstände, die auf eine Aufrechterhaltung oder eine Lösung der Bindungen zwischen dem/der betreffenden EU-Bürger/in und dem Aufnahmemitgliedstaat hindeuten. Ein Antrag auf Löschung in einem Einwohnermelderegister, die Kündigung eines Mietvertrags oder eines Vertrags über die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen wie Wasser oder Elektrizität, ein Umzug, die Abmeldung von einem Dienst zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt oder die Beendigung sonstiger Beziehungen, die mit einer gewissen Integration in diesen Mitgliedstaat einhergehen, können dabei zur Beurteilung herangezogen werden.
  • Integrationsstand im ursprünglichen Aufenthaltsstaat: Einzubeziehen sind außerdem der Grad der Integration des EU-Bürgers/der EU-Bürgerin im Aufnahmemitgliedstaat, die Dauer seines Aufenthalts sowie seine/ihre familiäre und wirtschaftliche Situation unmittelbar vor Erlass der Ausweisung.

Fazit
Der EuGH schließt mit seiner Entscheidung bestehende Lücken zu Ausweisung und Aufenthaltsbeendigung. Wann ein/e EU-Bürger/in den Aufenthalt tatsächlich und wirksam beendet hat, muss jeweils im konkreten Einzelfall entschieden werden. Ergibt eine solche Prüfung unter Berücksichtigung der seitens des EuGH aufgestellten Kriterien, dass der EU-Bürger/die EU-Bürgerin seinen/ihren vorübergehenden Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats nicht tatsächlich und wirksam beendet hat, gilt die Ausweisungsverfügung basierend auf dem Entzug des Freizügigkeitsrechts weiter fort. Der EU-Mitgliedstaat kann sich dann weiterhin auf die bereits ergangene Entscheidung stützen, um den EU-Bürger/die EU-Bürgerin zu verpflichten, sein Hoheitsgebiet zu verlassen.

Hinweis: Unabhängig davon stellt der EuGH aber klar, dass im Falle einer Änderung der Umstände des EU-Bürgers/der EU-Bürgerin, auf Grund derer diese/r nun die Voraussetzungen für das Freizügigkeits- und damit Aufenthaltsrecht über drei Monate erfüllt (z.B. Arbeitsaufnahme und damit Arbeitnehmerstatus im Aufnahmemitgliedstaat), er/sie wieder freizügigkeitsberechtigt ist und auf dieser Grundlage in den Aufnahmestaat zurückkehren kann.