Dreimonatige Sperrfrist für erwerbslose EU-Staatsangehörige für rechtswidrig erklärt

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Dem vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) am 1. August 2022 (C-411/20) entschiedenen Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Eine EU-Bürgerin aus Bulgarien zog gemeinsam mit ihrer Familie zur Arbeitssuche nach Deutschland und beantragte von Beginn ihres Aufenthalts an Kindergeld für ihre drei Kinder. Die zuständige Familienkasse Niedersachsen-Bremen lehnte ihren Antrag auf Zahlung von Kindergeld für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts ab und begründete dies damit, dass sie in dieser Zeit keine „inländischen Einkünfte“ bezogen habe: Das Einkommensteuergesetz (EStG) sieht vor, dass EU-Bürger/innen innerhalb der ersten drei Monate nach Verlagerung des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts nach Deutschland, keinen Anspruch auf Kindergeld haben; es sei denn, die Betroffenen beziehen in dem Zeitraum inländische Einkünfte, § 62 Absatz 1a EStG.

Gegen die Ablehnung ihres Antrags klagte die Bulgarin vor dem Finanzgericht Bremen. Das Gericht legte die Frage, ob die Ablehnung des Kindergeldantrags gegen das europarechtliche Gleichbehandlungsgebot verstoße, dem EuGH vor.

Info Gleichbehandlungsgebot: Solange sich ein/e EU-Bürger/in rechtmäßig in einem anderen EU-Staat als dem Herkunftsland aufhört, genießt er oder sie grundsätzlich das Recht auf Gleichbehandlung mit inländischen Staatsangehörigen. In den ersten drei Monaten ist für einen rechtmäßigen Aufenthalt lediglich ein gültiger Ausweis erforderlich. Sonstige Formalitäten sind nicht zu erfüllen.

Der EuGH bejahte einen Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot. Er begründete dies damit, dass deutsche Staatsangehörige, die nach Deutschland zurückkehrten, in gleicher Konstellation keine inländischen Einkünfte nachweisen müssten. Damit liege eine Ungleichbehandlung vor.

Info gewöhnlicher Aufenthalt: Auf Gleichbehandlung kann sich ein/e EU-Bürger/in allerdings nur berufen, wenn er oder sie tatsächlich den Wohnsitz oder den gewöhnlichen Aufenthalt in das Zielland verlegt hat. Wo der Wohnort oder gewöhnliche Aufenthalt liegt, bestimmt sich nach dem Mittelpunkt des Lebensinteresses einer Person, also nach den familiären Bindungen, der Erwerbstätigkeit, Wohneigentum und sonstigen Aufenthaltsmotiven. Entscheidend ist die Bewertung aller Lebensumstände.

Ein EU-Mitgliedstaat kann zwar in Übereinstimmung mit Europarecht einem wirtschaftlich nicht aktiven EU-Staatsangehörigen eine Sozialhilfeleistung in den ersten drei Monaten seines Aufenthalts verweigern. Das in Rede stehende Kindergeld stellt aber keine Sozialhilfeleistung im Sinne dieser Ausnahmebestimmung dar. Es wird nämlich unabhängig von der persönlichen Bedürftigkeit eines Empfängers oder einer Empfängerin gewährt. Es dient also nicht der Sicherstellung seines Lebensunterhalts, sondern dem Ausgleich von Familienlasten.