Leistungsausschluss im SGB II aufgehoben

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Sozialleistungen Leistungsausschluss im SGB II aufgehoben

Ein automatischer Ausschluss von Sozialleistungen für Eltern aus der Europäischen Union (EU), die ihr Aufenthaltsrecht aus Artikel 10 der Freizügigkeitsverordnung von ihren Kindern in (schulischer) Ausbildung ableiten, ist rechtswidrig. Mit diesem Urteil stärkt der EuGH das Recht auf gleiche soziale Vergünstigungen, wenn EU-Bürgerinnen und -Bürger von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch machen.

In dem vom EuGH entschiedenen Fall ging es um einen polnischen Familienvaters, der in Deutschland seit März 2013 bis November 2016 als Arbeitnehmer tätig war bis er arbeitslos wurde (EuGH C-181/19 ). Seine Kinder gingen in Deutschland ab August 2016 zur Schule. Die von ihm getrennte Ehefrau war 2016 wieder nach Polen zurückgekehrt. Als sein Arbeitslosengeld-Anspruch endete, beantragte er Grundsicherungsleistungen nach SGB II. Das Jobcenter Krefeld lehnte seinen Antrag ab: Er halte sich ausschließlich zum Zweck der Arbeitsuche in Deutschland auf und sei somit nicht leistungsberechtigt. Bei einem Aufenthaltsrecht nach Artikel 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 (Freizügigkeitsverordnung), das ihm über seine Kinder zustehe, gelte ein Leistungsausschluss nach SGB II (§ 7 Absatz 1 Satz 2 Nr. 2 Buchstabe c alter Fassung).

Der EuGH urteilte im Oktober 2020, dass dem Kläger aufgrund des Schulbesuchs seiner Kinder ein Aufenthaltsrecht nach Artikel 10 Freizügigkeitsverordnung zustehe. Es stelle in der Folge eine Ungleichbehandlung gegenüber Inländern im Bereich der Leistungen der sozialen Sicherheit dar, wenn einer Person wie dem Kläger gemäß einer innerstaatlichen Vorschrift von jeglichem Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen werde. 

Das Aufenthaltsrecht des Klägers und das seiner Kinder als Familienangehörige hat sich zunächst aus seiner Arbeitnehmereigenschaft abgeleitet. Kindern steht in diesem Fall ein eigenständiges und von den Eltern unabhängiges Aufenthaltsrecht zur fortgesetzten Teilnahme am Schulunterricht oder an einer Berufsausbildung zu. Dieses eigenständige Aufenthaltsrecht der Kinder erfordert dann aber umgekehrt die Anerkennung eines entsprechenden Aufenthaltsrechts des Elternteils, der die elterliche Sorge für diese Kinder tatsächlich ausübt (vgl. auch Info-Box zu dem Aufenthaltsrecht nach Artikel 10 Freizügigkeitsverordnung). Das Aufenthaltsrecht nach Artikel 10 endet dann, wenn das Kind seine (Schul-)Ausbildung abgeschlossen hat, es sei denn, die Eltern oder ein Elternteil sind dann direkt wieder freizügigkeitsberechtigt, z.B. als Arbeitnehmer/in.

Hinweis: Das Aufenthaltsrecht nach Artikel 10 Freizügigkeitsverordnung setzt nach ständiger Rechtsprechung voraus, dass der betroffene Elternteil im Aufnahmemitgliedsstaat vorher „Zugang zum Arbeitsmarkt“ gehabt hat. Das war hier der Fall, da der Kläger bevor er arbeitslos wurde, in Deutschland Arbeitnehmer war. EU-Bürgerinnen und -Bürger, die in den Aufnahmemitgliedsstaat eingereist sind, um dort eine erste Beschäftigung zu suchen, können sich demgegenüber nicht darauf berufen. 

Zugang zu SGB-II-Leistungen: Der EuGH hat entschieden, dass ein automatischer Leistungsausschluss für EU-Bürgerinnen und -Bürger, die ihr Aufenthaltsrecht gemäß Artikel 10 der Freizügigkeitsverordnung aus dem Schulbesuch ihrer Kinder ableiten, europarechtswidrig ist. Dieses Aufenthaltsrecht besteht unabhängig von dem aus der Arbeitnehmereigenschaft folgenden Aufenthaltsrecht. Es bleibt deshalb bei Verlust des Arbeitnehmerstatus erhalten. Wer sein Aufenthaltsrecht aus der Freizügigkeitsverordnung herleitet, für den gilt auch der Gleichbehandlungsgrundsatz nach Artikel 7 der Freizügigkeitsverordnung. Dieser bestimmt im Wesentlichen, dass ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, im Aufnahmemitgliedstaat die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen genießt wie inländische Arbeitnehmer. 

Der deutsche Gesetzgeber hat auf das EuGH-Urteil reagiert und den Leistungsausschluss in § 7 Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe c SGB II sowie aufgrund der Feststellungen des EuGH auch den gleichlautenden § 23 Absatz 3 Satz 1 Nr. 3 SGB XII (alter Fassung) zum 1. Januar 2021 gestrichen. Dementsprechend können nun auch EU-Bürgerinnen und -Bürger mit einem aus dem Schulbesuch ihrer Kinder abgeleiteten Aufenthaltsrecht Leistungen nach dem SGB II und SGB XII erhalten, soweit die entsprechenden Leistungsvoraussetzungen gegeben sind.

Weitere Informationen
Hierzu gibt es eine Veröffentlichung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages.  

Andere Konstellation: Nicht verheirateter Elternteil ohne Zugang zum Arbeitsmarkt 

Halten sich Eltern mit EU-Staatsangehörigkeit in Deutschland auf, sind aber nicht verheiratet, greift für den begleitenden oder nachziehenden Elternteil nicht das Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger eines Arbeitnehmers oder einer Arbeitnehmerin. Als Familienangehörige zählen nur Ehegatten und (eingetragene) Lebenspartner (§ 1 Absatz 2 Nr. 3 Freizügigkeitsgesetz/EU). Auch hat ein Elternteil, der in Deutschland (noch) keinen Zugang zum Arbeitsmarkt hatte und als Arbeitsuchender gilt, kein Aufenthaltsrecht über Artikel 10 der Freizügigkeitsverordnung (siehe dazu der Hinweis oben zum EuGH-Urteil). 

Eine solche Konstellation lag bei der Verfassungsbeschwerde einer rumänischen Staatsangehörigen vor, deren Antrag auf Grundsicherungsleistungen nach SGB II abgelehnt worden war (1 BvR 1094/20 ). Die Beschwerdeführerin reiste 2017 mit ihrem ebenfalls aus Rumänien stammenden Lebensgefährten und ihren zwei in den Jahren 2012 und 2016 geborenen, gemeinsamen Kindern in Deutschland ein. Der Lebensgefährte der Beschwerdeführerin und die gemeinsamen Kinder sind ebenfalls rumänische Staatsangehörige. Während der Lebensgefährte seit seiner Einreise mit kürzeren Unterbrechungen in Teilzeit erwerbstätig war, war das bei der Beschwerdeführerin nicht der Fall. Das 2012 geborene Kind besucht seit dem 1. August 2018 die Schule. Die Beschwerdeführerin ist nicht erwerbstätig und versorgt die gemeinsamen Kinder. Einen Verlust des Freizügigkeitsrechts (als Arbeitsuchende) hat die Ausländerbehörde nicht festgestellt. 

Zugang zu SGB-II-Leistungen: Bei einem Aufenthaltsrecht, das sich allein auf die Arbeitsuche stützt, greift bei einem Antrag auf Grundsicherungsleistungen der Leistungsausschluss nach § 7 Absatz 1 Nr. 2 Buchstabe b SGB II.

Ungeklärt bleibt aber die rechtlich umstrittene Frage, ob sich nicht auch ein Aufenthaltsrecht der rumänischen Staatsangehörigen über eine (analoge) Anwendung des
§ 28 Absatz 1 Satz 1 Nr. 3 Aufenthaltsgesetz herleiten lässt (betrifft die Personensorge für ein minderjähriges Kind mit deutscher Staatsangehörigkeit). Man spricht von analoger Anwendung, wenn für einen Sachverhalt keine Regelung direkt zutrifft. Das Bundesverfassungsgericht hat darauf hingewiesen, dass bei Klärung dieser Frage der besondere Schutz der Familie zu berücksichtigen sei, der unter anderem im Grundgesetz verankert ist (Artikel 6 Grundgesetz). Das Bundesverfassungsgericht hatte den Fall an das zuständige hessische Landessozialgericht zurückverwiesen. Mittlerweile ist das Verfahren aber eingestellt, so dass hierzu keine klärende gerichtliche Entscheidung in absehbarer Zeit zu erwarten ist.