Fallbeispiel
Miklos hat sich einiges von der Arbeit in Deutschland erhofft. Weil er in Ungarn schlecht verdiente, hat er seine Stelle aufgegeben und ist nach Deutschland gekommen, um hier als Lkw-Fahrer für eine Spedition zu arbeiten. Bei der Spedition bekommt er zwar eine bessere Bezahlung, muss aber sehr viel arbeiten. Miklos ist mit seinem Lkw von 7 Uhr morgens bis 1 oder 2 Uhr nachts unterwegs. Am nächsten Morgen muss er um 7 Uhr weiterfahren. Sein Arbeitgeber hat ihn angewiesen, den Tacho auf „Arbeitszeitunterbrechung“ zu stellen, wenn er mit der Entladung, Beladung oder Reinigung des Lkws beschäftigt ist. Für die Arbeit in den zusätzlichen Stunden und in der Nacht bekommt er kein zusätzliches Geld.
Nicht immer gelingt es Miklos, nach viereinhalb Stunden Fahrt eine Pause zu machen. Häufig kann er sie erst nach sechs Stunden einlegen. Sein Vorgesetzter macht großen Druck: Er ruft Miklos an und sagt, wenn er es nicht schafft, soll er einfach den Trick mit dem Tacho machen, den er ihm gezeigt hat. Er hat ihm auch mit der sofortigen Kündigung gedroht, wenn Miklos sich weigert, diese Anweisungen zu befolgen. Miklos hat Angst, die Anweisungen zu befolgen, aber auch davor, die Arbeit zu verlieren. Seine Wochenenden verbringt er im Lkw auf Raststätten. Für Hotels hat er kein Geld. Zudem darf er die Ladung des Lkws nicht unbeaufsichtigt lassen. Die wöchentliche Pausenzeit zwischen den Einsätzen dauert bei ihm zusammengenommen lediglich 24 Stunden. Miklos fühlt sich erschöpft. Er kennt die deutschen Arbeitszeitregelungen nicht und weiß nicht, ob seine Überstunden in Ordnung sind. Er will wissen, welche Institution ihm in dieser Situation helfen kann.
Die Arbeits-, Lenk- und Ruhezeiten für Lkw-Fahrer in Deutschland müssen sehr streng eingehalten werden. Dies soll gewährleisten, dass sie ausreichend Erholung bekommen und nicht übermüdet auf den Autobahnen unterwegs sind. Nach spätestens viereinhalb Stunden Lenkzeit muss Miklos eine Pause von mindestens 45 Minuten einlegen. Nach sechs Stunden Arbeit muss Miklos eine weitere Pause von mindestens 30 Minuten einlegen. Miklos darf regelmäßig nicht länger als neun Stunden täglich am Steuer sitzen. Seine tägliche Ruhezeit soll grundsätzlich nicht kürzer als elf Stunden sein. Diese Regelungen werden in seinem Fall nicht eingehalten.
Die wöchentliche Ruhezeit soll grundsätzlich 45 Stunden dauern. Sie kann auf 24 Stunden verkürzt werden, jedoch müssen die fehlenden Ruhezeitstunden an eine Ruhezeit von mindestens neun Stunden angehängt werden. Der Ausgleich muss innerhalb der nächsten drei Wochen stattfinden.
Für die Überwachung dieser Vorschriften sind in Deutschland die Polizei, die Arbeitsschutzbehörden und das Bundesamt für Logistik und Mobilität (BALM) zuständig.
Miklos kann die Beamten des BALM vor allem bei Straßenkontrollen antreffen. Wenn das BALM Verstöße feststellt, kann sowohl Miklos als auch sein Arbeitgeber mit Geldbußen und bei schweren Verstößen sogar mit Gefängnis bestraft werden. Das BALM prüft auch, ob die Lkw-Fahrer die wöchentliche Ruhezeit von mindestens 45 Stunden einhalten und ob sie diese wie vorgesehen, außerhalb der Fahrerkabine verbringen. Auch in diesem Fall drohen Miklos und seinem Arbeitgeber Strafen. Miklos kann sich an das BALM wenden und den Arbeitgeber anzeigen.
Information über die Arbeitsbedingungen in Deutschland kann Miklos auch auf Ungarisch auf der Seite der Gleichbehandlungsstelle EU-Arbeitnehmer finden:
eu-gleichbehandlungsstelle. de
Die Polizei führt häufig gemeinsame Straßenkontrollen mit dem Bundesamt für Logistik und Mobilität durch. Sie ist ebenfalls dafür zuständig, Verletzungen der Lenk- und Ruhezeiten zu prüfen und bestrafen. Dadurch schützt die Polizei die Sicherheit im Straßenverkehr. Miklos kann bei der Polizei Anzeige erstatten, weil sein Arbeitgeber versucht hat, ihn zur Tachomanipulation zu nötigen. Das Verhalten des Arbeitgebers ist womöglich strafbar.
Die Arbeitsschutzbehörden sind nach Bundesländern organisiert. Sie überwachen die Einhaltung der Arbeitsschutzregelungen, darunter Arbeitszeit-, Lenk- und Ruhezeiten. Sie führen ihre Kontrollen auch in den Betrieben durch. Die zuständige Arbeitsschutzbehörde kann Miklos in diesem Dokument finden:
Miklos kann die zuständige Arbeitsschutzbehörde vor Ort kontaktieren und über die Arbeitszeiten sowie die Drohungen des Arbeitgebers informieren. Diese Meldung sollte gut begründet und belegt sein. Miklos kann z. B. die eigene Arbeitszeiterfassung vorlegen. Auf seinen Hinweis hin kann der Betrieb kontrolliert werden. Der Name von Miklos wird dem Arbeitgeber nicht mitgeteilt, wenn Miklos das nicht will. Dies muss er der Behörde bei der Meldung sagen. Sein Arbeitgeber wird dann belehrt und wenn die Verstöße sich bestätigen, kann er bestraft werden.
Die Gewerkschaften in Deutschland sind nach Branchen organisiert. Kraftfahrerinnen und Kraftfahrer werden von der Gewerkschaft ver.di betreut. Miklos kann der Gewerkschaft beitreten. Davon wird sein Arbeitgeber nichts erfahren. Miklos bekommt als Gewerkschaftsmitglied gewerkschaftlichen Rechtsschutz: Er kann sich arbeitsrechtlich beraten lassen. Nach drei Monaten Gewerkschaftszugehörigkeit kann er sich durch die Gewerkschaft auch gerichtlich vertreten lassen. Die Adresse von ver.di vor Ort kann mithilfe dieser Suchmaschine gefunden werden:
https://www.verdi.de/wegweiser/verdi-finden
Die Beitrittserklärungen in mehreren Sprachen (auch auf Ungarisch) findet Miklos auf der Website von ver.di:
https://www.verdi.de/++co++a9c223c4-bcdf- 11e0-53c5-00093d114afd
Es ist ratsam, dass Miklos mit seinen Arbeitskolleginnen und -kollegen spricht und dass sie zusammen der Gewerkschaft beitreten. Je mehr Beschäftigte im Betrieb von der Gewerkschaft vertreten werden, desto besser ist ihre Verhandlungsposition. Gegen manche Probleme wie Drohungen oder unzulässige Überstunden können sie sich dann mithilfe der Gewerkschaft gemeinsam wehren. Natürlich kann ver.di auch die Miklos zustehende Bezahlung vom Arbeitgeber einfordern.
Wenn Miklos sich gegen den Eintritt in eine Gewerkschaft entscheidet, weil z. B. die Sprachbarriere zu groß ist oder er sofort Hilfe braucht, kann er sich an eine arbeitsrechtliche, gewerkschaftsnahe Beratungsstelle wenden. In vielen deutschen Städten gibt es solche Beratungsstellen von Arbeit und Leben e.V. oder Faire Mobilität, die mehrsprachig und kostenlos beraten:
Spezifische arbeitsrechtliche Beratungsstellen:
https://www.arbeitundleben.de/beratungsstellen/beratungsstellen
https://www.faire-mobilitaet.de/beratungsstellen
Eine Übersicht aller Beratungsstellen nach thematischem Schwerpunkt und Sprache findet Miklos hier:
https://www.eu-gleichbehandlungsstelle.de/beratungsstellensuche
Jede Überstunde muss Miklos bezahlt werden. Die Stunden zwischen 23 Uhr und 6 Uhr zählen als Nacht- zeit. Wenn Miklos länger als zwei Stunden in der Nachtzeit gearbeitet hat, muss er den Nachtzuschlag bekommen. Er beträgt in der Regel 25 %. Keine von den oben genannten Kontrollbehörden ist dafür zuständig, dass Miklos den rechtmäßigen Arbeitslohn für die Überstunden und die Nachtzuschläge bekommt. Den kann nur er selbst vom Arbeitgeber einfordern.
Die Beratungsstelle unterstützt Miklos, Nachweise für die Lohnforderung vorzubereiten. Hierbei ist ein Auszug aus der Fahrerkarte hilfreich. Auf dieser Grundlage kann Miklos seine tägliche Arbeitszeit aufschreiben. Die Fahrerkarte kann in jeder DEKRA-Stelle ausgelesen werden:
https://www.dekra.de/de/standorte/
Miklos kann die Karte auch von der Arbeitsschutzbehörde kostenlos auslesen lassen:
Auf Basis der dokumentierten Arbeitszeit kann die Beratungsstelle Miklos helfen, dass ihm zustehende Geld zu berechnen und den Arbeitgeber zur Zahlung aufzufordern. Wenn der Arbeitgeber die Forderungen nicht freiwillig bezahlt, muss Miklos gegen den Arbeitgeber beim Arbeitsgericht klagen. Nähere Informationen zu diesem Verfahren stehen in Kapitel 2.
Wenn Überstunden nicht ausgezahlt werden, hat der Arbeitgeber meist auch Sozialversicherungsbeiträge nicht voll gezahlt und gegen das Mindestlohngesetz verstoßen. Daher kann Miklos den Fall bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS), einer Abteilung des deutschen Zolls, anzeigen. Die Adresse der Stelle vor Ort findet er unter:
https://www.zoll.de/DE/Service/Dienststellensuche/FKS/Schritt_02/dienststellenfinder_node.html
Die FKS kann die Ermittlungen aufnehmen und den Arbeitgeber bestrafen. Das kann den Arbeitgeber zukünftig von ähnlichen Rechtsverstößen abhalten und andere Lkw-Fahrer schützen.