Fallbeispiel
Jaroslav arbeitet seit Jahren auf Baustellen in verschiedenen Ländern. Er ist ein gelernter Fachwerker. Seit 2021 arbeitet er in Hannover, bei der Firma XYZ GmbH. Auf einem slowakischen Internetportal hat die Firma Jobs im Bau angeboten. Jaroslav hat schon am ersten Arbeitstag den Arbeitsvertrag unterschrieben. Er war in deutscher Sprache verfasst, die Jaroslav nur eingeschränkt versteht, aber Zeit zum Überlegen oder Nachfragen gab es nicht. Jaroslav hat verstanden, dass XYZ GmbH ihm 2.150 EUR brutto monatlich zahlen wird. Auf der Baustelle hat sich Jaroslav sofort gut zurechtgefunden, denn die ihm zugewiesene Arbeit ist ihm vertraut: Trockenbauarbeit, Verputzen, Einbau von Decken und Wänden, Verlegen von Bodenbelägen. Manchmal muss er Überstunden machen, aber das ist im Bau doch üblich. Jaroslav wollte mehr Infor- mationen über die Inhalte seines Vertrags bekommen, etwa zu seinem Urlaubsanspruch oder Zuschlägen für Überstunden. Deswegen hat er einen Kollegen, der gut Deutsch spricht, gebeten, sich den Arbeitsvertrag anzuschauen. Er war sehr überrascht, als der Kollege ihm erklärt hat, dass der Vertrag folgende Stellenbeschreibung enthält: „Hausmeister: Wartung, kleine Reparaturen der Haustechnik, Botengänge“. Solche Aufgaben hat Jaroslav aber nie ausgeführt. Jaroslav versteht nicht, warum in seinem Vertrag nicht einfach Bauarbeiter steht. Sein Chef sagt ihm, das sei so in Ordnung.
Um mehr Informationen über seine Rechte in seiner Sprache zu bekommen, kann Jaroslav eine arbeitsrechtliche Beratungsstelle aufsuchen. Die Adresse einer Beratungsstelle in seiner Nähe kann er online finden unter:
Spezifische arbeitsrechtliche Beratungsstellen
https://www.arbeitundleben.de/ beratungsstellen/beratungsstellen
https://www.faire-mobilitaet.de/beratungsstellen
Eine Übersicht aller Beratungsstellen nach thematischem Schwerpunkt sowie auch nach Sprache findet Jaroslav unter:
https://www.eu-gleichbehandlungsstelle.de/beratungsstellensuche
Dort erfährt Jaroslav, dass für Bauarbeiter in Deutschland besondere Arbeitsbedingungen gelten, wenn sie bei einer Baufirma beschäftigt sind. Sie sind in sogenannten Tarifverträgen geregelt, die zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden ausgehandelt worden sind.
Die zwei wichtigsten Tarifverträge für Jaroslav sind der „Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe“ (BRTV) und der „Tarifvertrag zur Regelung der Mindestlöhne im Baugewerbe“ (TV-Mindestlohn). BRTV ist allgemeinverbindlich, d.h. er gilt für alle Baufirmen und alle Bauarbeiter in Deutschland, auch wenn sie, wie Jaroslav, keine Gewerkschaftsmitglieder sind. TV-Mindestlohn ist es zur Zeit (Stand Juni 2023) nicht. Da Jaroslav seinen Arbeitsvertrag im 2021 unterzeichnet hat, wenn der Tarifvertrag noch allgemeinverbindlich war, gelten seine Regelungen für ihn weiter (sog. Nachwirkung). Die Beschäftigten im Baugewerbe haben Anspruch u. a. auf einen höheren Mindestlohn, Überstundenzuschlag und mehr Urlaub als andere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Auch wenn Jaroslav einen Vertrag als Hausmeister unterzeichnet hat: Für die Anwendung des Bautarifvertrages ist nicht die Bezeichnung auf dem Papier entscheidend, sondern die tatsächlich ausgeführte Arbeit. Die XYZ GmbH hat Jaroslav vermutlich einen Vertrag als Hausmeister gegeben, um ihn nicht zu den besseren Arbeitsbedingungen der oben genannten Tarifverträge beschäftigen zu müssen.
Jaroslav sollte sich daher täglich seine Aufgaben notieren, um beweisen zu können, dass er Bauarbeiten ausführt. Im Mindestlohntarifvertag für das Baugewerbe sind zwei Lohngruppen vorgesehen: Mindestlohn 1 für sogenannte unqualifizierte Arbeiten und Mindestlohn 2 für Facharbeiten. Die Beratungsstelle kann Jaroslav sagen, welchen Lohn er für seine Tätigkeiten bekommen sollte: Jaroslav hat fachliche Arbeiten ausgeführt, daher hat er Recht auf den Fachwerker-Mindestlohn der Lohngruppe 2 des Tarifvertrages in Höhe von aktuell 15,70 € brutto (Facharbeiter Westdeutschland Stand Januar 2021). Das ist viel mehr als er jetzt bekommt.
Außerdem sieht der Tarifvertrag vor, dass er einen Zuschlag für seine Überstunden in Höhe von 25 % bekommen muss. Er hat auch Anspruch auf 30 Urlaubstage pro Jahr, statt auf den gesetzlichen Mindesturlaub von 24 Tagen. Aber das gilt nur, wenn die XYZ GmbH den Tarifvertrag anwenden muss. Dies ist dann der Fall, wenn es eine Baufirma ist. Nach Jaroslavs Beobachtungen und Gesprächen mit Kollegen ist die XYZ GmbH ausschließlich auf Baustellen tätig.
Auf der Internetseite des Arbeitgebers bezeichnet sich das Unternehmen als Baufirma. Die Beratungsstelle unterstützt Jaroslav dabei einzuschätzen, ob es sich um eine Baufirma handelt. Dies ist dann der Fall, wenn sie gewerblich Bauten erstellt oder bauliche Leistungen erbringt. Wenn eine Firma sowohl bauliche als auch andere Leistungen erbringt, muss man prüfen, welche der Leistungen überwiegen. Wenn die Beschäftigten mit mehr als 50 % ihrer gesamten Arbeitszeit im Kalenderjahr bauliche Leistungen erbringen, ist die Firma eine Baufirma und unterliegt den Tarifverträgen der Branche. Jaroslav hat diese Information nicht, möchte aber sicher sein, dass die XYZ GmbH unter den Tarifvertrag fällt, bevor er seine Rechte einfordert.
Jaroslav kann sich dazu an die örtlichen Gewerkschaften wenden. Die Gewerkschaften in Deutschland sind nach Branchen organisiert. Zuständig für das Baugewerbe ist die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt
(IG BAU). Die IG BAU Ansprechpartner vor Ort sind auf der folgenden Website zu finden:
https://www.igbau.de/Bezirksverbaende.html
Jaroslav ist kein Gewerkschaftsmitglied und kann daher weder eine Rechtsberatung von der Gewerkschaft bekommen noch von ihr in einem eventuellen Rechtsstreit vertreten werden. Er kann aber die Gewerkschaft über seinen Fall informieren und Auskunft über seine Firma bekommen. Den Gewerkschaften sind die Arbeit- geberfirmen häufig bekannt und sie können dabei helfen, die Firma als Baubetrieb zu identifizieren.
Wenn Jaroslav sich entscheidet, der Gewerkschaft beizutreten, kann er nach drei Monaten Mitgliedschaft den gewerkschaftlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen: Er würde dann in Streitfällen mit dem Arbeitgeber von einem Rechtsschutzsekretär ohne weitere Kosten vertreten. Sein Arbeitgeber würde nicht über seinen Gewerkschaftsbeitritt informiert werden.
https://igbau.de/Mitglied-werden.html
Der monatliche Mitgliederbeitrag bei der IG BAU beträgt 1,15 % des Bruttolohns.
Jaroslav kann seinen Fall an die SOKA-BAU melden. Die SOKA-BAU ist die Sozialkasse des Baugewerbes. Die Sozialkasse führt für die Beschäftigten im Baugewerbe u. a. sogenannte Urlaubskassenverfahren durch, um das Urlaubsentgelt der Arbeiter zu sichern. Alle Baufirmen sind verpflichtet, ihre Beschäftigten bei der SOKA-BAU zu melden und Urlaubsbeiträge für sie einzuzahlen. Die SOKA-BAU prüft, ob die Arbeitgeber die tariflichen Mindestlöhne einhalten. Die SOKA-BAU kann auch das Profil von XYZ GmbH prüfen und sagen, ob es eine beitragspflichtige Baufirma ist. Wenn das so ist, muss sie für Jaroslav Urlaubsbeiträge zahlen. Jaroslav bekommt eine Auskunft über das Ergebnis der Prüfung.
Jaroslav kann einen Prüfungsantrag an die SOKA-BAU auch mithilfe der Beratungsstellen vor Ort vorbereiten. Wichtig ist, dass er seine Tätigkeiten und Angaben über die Baustellen genau beschreibt und seinen Arbeitsvertrag und die Lohnabrechnungen beifügt.
Kontakt zur SOKA-BAU:
Telefon: 0800 1000881
Mo-Fr 8:00 Uhr bis 17:00 Uhr
arbeitnehmer@soka-bau.de
SOKA-BAU
65179 Wiesbaden
Der Fall kann auch über ein Formular auf der Website der SOKA-BAU gemeldet werden:
https://www.soka-bau.de/arbeitnehmer/ leistungen/mindestlohn/meldeformular/
Die SOKA-BAU fordert jedoch nicht den tariflichen Mindestlohn und Überstundenzuschläge für Jaroslav vom Arbeitgeber ein. Dafür muss Jaroslav selbst eine Klage beim Arbeitsgericht einreichen, wenn sein Arbeitgeber den noch ausstehenden Lohn nicht freiwillig zahlt.
Das zuständige Arbeitsgericht befindet sich dort, wo der Arbeitgeber seinen Sitz hat. Jaroslav kann sich auch an das Arbeitsgericht wenden, das in dem Ort liegt,
in dem er gearbeitet hat. Die Adresse des zuständigen Arbeitsgerichts kann mithilfe der Suchmaschine ermittelt werden:
https://www.justizadressen.nrw.de/de/justiz/ gericht?ang=arbeit&plz=&ort=
Beim Arbeitsgericht kann er sich auf die Anwendung der Tarifverträge im Bau berufen und die Auskünfte nutzen, die er z. B. von der IG BAU oder der SOKA-BAU bekommen hat.
Das genaue Vorgehen, um nicht gezahlte Löhne einzu- fordern, ist in Kapitel 2: „Nichtauszahlung des Lohnes“ beschrieben.
Es ist wahrscheinlich, dass der Arbeitgeber Jaroslav den tariflichen Mindestlohn und Überstundenzuschläge vorenthalten hat. Das bedeutet, dass der Arbeitgeber auch die Sozialversicherungsbeiträge nicht voll abgeführt hat. Das ist eine Straftat, die Jaroslav bei der Finanz- kontrolle Schwarzarbeit, einer Abteilung des deutschen Zolls, melden kann:
Wenn sich die Vorwürfe von Jaroslav bestätigen, wird die Finanzkontrolle Schwarzarbeit ein Ermittlungsverfahren gegen XYZ GmbH eröffnen. Der Arbeitgeber kann für solche Verstöße bestraft werden.
Das bedeutet aber nicht, dass die Finanzkontrolle Schwarzarbeit für Jaroslav den tariflichen Mindestlohn und Überstundenzuschläge vom Arbeitgeber einfordert. Von seiner Meldung hat Jaroslav also keinen eigenen Nutzen, trägt aber dazu bei, dass die Baufirma in Zukunft andere Beschäftigte nicht ebenfalls um ihren rechtmäßigen Lohn betrügt.